Vom Flachs zum Leinen

22.10.2019

Elisabeth Hippe klebte Stängel, Blütenstände und Samen der Flachspflanze, die daraus gewonnenen Leinenfasern und ein Stück Leinengewebe auf die erste Seite ihrer Projektarbeit. Foto: Sebastian Schröder.

Vom Flachs zum Leinen

Die Schülerin Elisabeth Hippe und ihre Projektarbeit (um 1940)

Sebastian Schröder

Einst waren das Ravensberger und das Tecklenburger Land Hochburgen der Leinenherstellung. Deshalb verwundert es nicht, wenn auf den bäuerlichen Besitzungen Ravensbergs Flachs und Leinen auch in jener Zeit noch nicht in Vergessenheit geraten waren, als seit dem 19. Jahrhundert Wolle und Baumwolle ihren Siegeszug angetreten hatten – für den Hausgebrauch war der Flachs ohnehin bis ins 20. Jahrhundert weiterhin üblich. Spinnräder, Haspel und Webstühle erinnerten an den vormals so lukrativen Gewerbezweig – auch auf dem Hof Hippe, Holzhausen Nr. 8, der in der Nähe Preußisch Oldendorfs im damaligen Kreis Lübbecke lag.

1926 wurde den Eheleuten Heinrich und Luise Hippe, geborene Horstmeyer, eine Tochter geboren: Elisabeth. Ab 1932 ging sie in die Holzhauser Volksschule und besuchte diese Lehranstalt insgesamt acht Jahre lang. Während ihrer Schulzeit, vermutlich Ende der 1930er-Jahre, musste sie ein Gruppenarbeitsheft führen, das sich bis heute im Hofarchiv erhalten hat. Das Thema lautete: „Der Flachs“. Aber warum beschäftigte sich das Mädchen gerade mit diesem Gegenstand? Darüber gibt Elisabeth Hippe selbst in der Einleitung Auskunft; der allgegenwärtige nationalsozialistische Zeitgeist tritt dabei deutlich zum Vorschein: „In Deutschland gebrauchen wir viel Wolle und Baumwolle. Dieses ist in Deutschland aber sehr wenig. Dann müssen wir sie einführen. Dazu gebrauchen wir aber Deviesen [sic!] und die müssen jetzt für andre Dinge gebraucht werden. Darum ist der Flachs sehr notwendig und Flachsanbau sehr wichtig.“

Das NS-Regime propagierte, dass das Deutsche Reich unabhängig von Exportgütern sein solle. Dieser Gedanke wurde auch den Schülern eingeschärft. Denn die Devisen hatten nunmehr für andere Zwecke eingesetzt zu werden – nämlich für die Kriegsvorbereitungen. Diese ideologiegesteuerte Wirtschaftspolitik führte jedoch dazu, dass einige Güter nicht mehr verfügbar waren – in diesem Fall die Baumwolle. Ersatzprodukte waren vonnöten. Die Nationalsozialisten besannen sich darauf, dass in der Vergangenheit Kleidung aus Flachs hergestellt wurde. Der Leinenfertigung sollte deshalb zu neuer Blüte verholfen werden.

Bilder der elfseitigen Projektarbeit Elisabeth Hippes. Bilder: Sebastian Schröder.

Auf insgesamt elf Seiten widmete sich Elisabeth Hippe ihrer Aufgabe. Der schriftlichen Ausarbeitung stellte sie ein Herbarium voran: In ihr Heft klebte sie ganz zu Beginn einen Stängel, Blütenstände und Samen der Flachspflanze sowie die daraus gewonnenen Leinenfasern und ein Stück Leinengewebe ein. Anschließend widmete sie sich dem Anbau, der Ernte und der Verarbeitung des Flachses. Dieser wurde im April gesät. Eine bäuerliche Weisheit besage, dass die Pflanze „am 100. Tage des Jahres […] gesät werden“ müsse. Dabei erfolge eine „dicke“, also dichte Aussaat. Einerseits biete dieses Verfahren Schutz vor zu starker Sonneneinstrahlung und andererseits würden die Flachsstängel nicht so dick und die darin enthaltenen Fasern dementsprechend feiner. Sobald der Flachs eine Höhe von zehn Zentimetern erreicht habe, müsse das Unkraut gejätet werden. Vor der Mechanisierung sei diese Arbeit per Hand geschehen. Später, so berichtete Hippe, sei der Flachs in Reihen gesät worden, sodass der Bauer mit der Hackmaschine oder dem sogenannten Igel das Unkraut zwischen den Reihen entfernen könne.

Sei der Flachs reif, könne er geerntet werden: „Die Flachsernte liegt zwischen der Heuernte und Roggenernte.“ Dabei gelte es aber zu beachten, dass die Pflanze nicht gemäht werde, sondern „gezogen“. Beim Mähvorgang würde ein Teil der wertvollen Fasern nicht erfasst, betonte die Schülerin. Zunächst werde der Flachs in Reihen gelegt, ehe er in „handvolldicke Bündel“ gebunden werde. Diese würden anschließend durch einen Kamm gezogen, damit die Blütenstände und die in Hülsen befindlichen Samen entfernt werden könnten. Aus den Samen werde Leinsamen oder Öl gewonnen. Auch als Viehfutter fänden sie Anwendung. Die so vorbereiteten Flachsstängel lege man daraufhin in „Röhtekuhlen“. Dabei handele es sich um flache, mit Wasser gefüllte Kuhlen. Nach vier Wochen entnehme man den Flachs wieder und lege ihn entweder auf eine Wiese oder ein Stoppelfeld, wo er abwechselnd durch den Regen benässt und durch die Sonne wieder getrocknet werde. Dieser Arbeitsschritt sei erforderlich, damit sich die harten Bestandteile des Stängels von den Fasern lösten. Auch das Stampfen oder Brechen des Flachses in einer Boke- oder Stampfmühle diene dem Zweck, die verschiedenen Pflanzenteile voneinander zu trennen.

Die Töchter der Familie Hippe im Sommer 1934. Fotograf unbekannt, Privatbesitz Schröder.

Nun seien die Frauen gefragt gewesen, wie Elisabeth Hippe vermerkt. Sie müssten den Flachs „hecheln“. Dabei zögen sie die mürben Pflanzen zunächst durch grobe und später durch feinere Kämme. Dadurch entstehe grobe und feine Hede. Erstere könne zu Stricken oder Seilen verarbeitet werden. Die feine Hede sei dagegen das Grundprodukt groben Leinenzeugs. Besonders begehrt und wertvoll seien aber die reinen Flachsfasern. Auch sie würden zunächst gesponnen, ehe man das entstandene Garn koche und bleiche. Dieses weiße Garn, so erklärte Hippe, werde in „Stücke“ gewebt, die 70 Zentimeter breit und neun bis zwölf Ellen lang seien. Es sei ein erneuter Bleichvorgang gefolgt, ehe das Leinen in Rollen (die man auch „Bolten“ nannte) gewickelt werde.

Vom Flachs zum Leinen – dazu waren viele Schritte notwendig. Folgerichtig fasst die Holzhauser Schülerin Elisabeth Hippe zusammen: „Der Flachs macht […] viel Arbeit.“ Doch diese Mühe gehörte eigentlich auch schon in den 1930er- und 1940er-Jahren längst der Vergangenheit an. Den Nationalsozialisten gelang es nicht, die Zeit zurückzudrehen. Daran änderte auch die Indoktrination der Schuljugend nichts. Beruflich sollte Elisabeth Hippe übrigens keinerlei Berührungspunkte mit Flachs und Leinen haben. Denn sie ließ sich als Diakonisse ausbilden und arbeitete später als Gemeindeschwester im Lübbecker Land.