Wie klingt die Vormoderne?

09.11.2021 Niklas Regenbrecht

Auf dem Gröchten in Eininghausen (heute ein Ortsteil von Preußisch Oldendorf) steht ein Glockenstuhl, Foto: Sebastian Schröder.

Sebastian Schröder

Tonträger wie zum Beispiel Wachswalzen, Schallplatten oder digitale Speichermedien können Klänge, gesprochene Worte oder Musik für die Zukunft bewahren. Die Töne überdauern durch ihre analoge oder digitale Speicherung ihre flüchtige Gegenwart. Tonträger sind historische und alltagskulturelle Zeitdokumente, denen ein besonderer Quellenwert zukommt. Sie treten neben die schriftliche und materielle Überlieferung. In Bezug auf die Geschichte stellt sich folgerichtig die Frage: Wie klingt eigentlich die Vergangenheit? Bei der Beantwortung stößt man unweigerlich an gewisse Grenzen. Berühmtheit erlangte beispielsweise die Rede Philipp Scheidemanns, bei der er am 9. November 1918 von einem Balkon des Reichstagsgebäudes rief: „Das Alte und Morsche, die Monarchie ist zusammengebrochen. Es lebe das Neue, es lebe die deutsche Republik!“ Seine Stimme, das Knarzen des Aufnahmegeräts – vielen wird dieses historische Tondokument geläufig sein. Weniger bekannt ist allerdings, dass dieses geschichtsträchtige Statement erst nachträglich eingesprochen worden ist. Als Scheidemann in Berlin im November des Jahres 1918 das Ende des Deutschen Kaiserreichs besiegelte, hielt kein Mikrofon diesen historischen Moment fest. Insofern muss die spätere Intonierung als Inszenierung betrachtet werden, deren Zustandekommen wiederum Quellenwert hat. Es zeigt sich, dass auch bei Tondokumenten die Quellenkritik nicht zu kurz kommen darf.

Wer sich dagegen für die Vormoderne interessiert, als man selbst von einfachsten Aufnahme- und Abspielgeräten noch nicht zu träumen wagte, der steht vor einem ganz anderen Problem: Wie lässt sich die Klangwelt dieser Epoche aufspüren? Ist es überhaupt möglich, die Frühe Neuzeit mit dem Hörsinn zu erfahren? Oder kurzum: Wie klingt eigentlich die Vormoderne?

Dass auch in den Jahrhunderten, in denen noch keine moderne Tontechnik existierte, Klänge, Musik und das gesprochene Wort von großer Bedeutung waren, ist unbestritten. Vermutlich gewinnt diese Erkenntnis eine zusätzliche Relevanz, wenn man bedenkt, dass viele Menschen weder lesen noch schreiben konnten. Sie waren in hohem Maße auf andere Medien der Kommunikation und der Vermittlung angewiesen. Man denke etwa an Märchenerzähler oder umherziehende Ausrufer, die Erlasse, Verordnungen und Nachrichten öffentlich verkündeten – durch ihre Stimme. Auch Sänger, Musikanten und Musikinstrumente waren geläufig und gehörten zum gewohnten auditiven Erlebnis in Stadt und Land. In den Kirchen galten Gesang und mitunter der Einsatz von Orgeln als elementarer Bestandteil sakraler Handlungen. Geistliche Liederbücher, historische Orgelprospekte, Trompeten oder bildliche Darstellungen lassen erahnen, welche Klänge in der Vormoderne erlebbar waren. Und doch: Zwar mag sich das religiöse Liedgut in moderne Notensysteme übertragen lassen und den alten Instrumenten ein Ton zu entlocken sein, aber wissen wir dadurch tatsächlich, wie die Vormoderne geklungen hat? Darüber ließe sich trefflich diskutieren.

Die Erlöserglocke der Kirche in Preußisch Oldendorf aus dem Jahr 1542 trägt die Inschrift „Verbum domini manet in eternum“ (Gottes Wort bleibt in Ewigkeit), Foto: Sebastian Schröder.

Die Antwort würde vermutlich ambivalent ausfallen; die Vergangenheit kann eben nur schwer mit allen Sinnen rekonstruiert werden. Aufschlussreicher erscheint dagegen die Frage, wann und in welchen Situationen akustische Signale, Musik oder einzelne Töne zur Anwendung kamen. Als exemplarischer Untersuchungsgegenstand sollen Glockenstühle dienen, die in zahlreichen westfälischen Bauerschaften ein alltäglicher Anblick waren. Hinzu kommen die größtenteils massiv ausgeführten Türme von Sakralbauten, in denen oft sogar mehrere Glocken hingen.

Glocken in Kirchen verbanden Glauben und Zeitmessung: Sie läuteten zum morgendlichen, mittäglichen und abendlichen Gebet, zum Gottesdienst, zu Taufen, Hochzeiten und Trauerfeiern. Die Stifter der metallenen Klangkörper verewigten auf ihnen außerdem bestimmte Botschaften, die häufig in Form von Inschriften oder Bildelementen überliefert sind. So gab die Gemeinde (Preußisch) Oldendorf im Nordosten Westfalens etwa im Jahr 1542 eine Glocke in Auftrag, die den Wahlspruch der Reformation trägt: „Verbum domini manet in eternum“ (Gottes Wort bleibt in Ewigkeit). Sie verdeutlicht den Wunsch, die eigene Konfession möge die Jahrhunderte überdauern und sich mit dem Glockenschall verbreiten. Ähnliche Anliegen hatten auch die Katholiken: Für die Laurentiuskirche im nahegelegenen Bünde fertigte der Meister Hans Rabe im Jahr 1556 eine neue Glocke. Diese war der Jungfrau Maria geweiht und trug folgende Inschrift: „Wan ick swige met minem klang, so bidde van marien im gebede um die salicheit unde den frede“ (Wenn ich schwinge mit meinem Klang, so bitte Maria im Gebet um Seligkeit und Frieden). Neben der Inschrift zeigt die Glocke Jesu Kreuzigung, am Fuß des Kreuzes beten Maria und Johannes zum Gekreuzigten.

Neben ihrer religiösen Funktion besaßen Glocken in früheren Zeiten auch für die weltliche Obrigkeit wichtige Funktionen: Sie warnten vor Feuer und vor Unwettern, sie verkündeten Friedensschlüsse oder Kriegsunglücke. Zudem rief das Geläut die Mitglieder und Bewohner einer Bauerschaft, eines Dorfes oder einer Stadt zu Gerichtstagen und Bauerschaftsversammlungen sowie zum kriegerischen Einsatz zusammen. In diesem Sinne waren Glocken ein wichtiges Kommunikationsmedium. Als im Januar 1745 beispielsweise der Schall der Glocke im ravensbergischen Eininghausen, einem Nachbarort (Preußisch) Oldendorfs ertönte, schwante den Einwohnern nichts Gutes. Tatsächlich: Aus dem benachbarten Osnabrückischen war eine Gruppe bewaffneter Männer eingedrungen, um Deserteure aufzuspüren. Angesichts dieser Bedrohung griffen die Eininghauser ihrerseits zu den Waffen, um sich zu verteidigen – die Glocke hatte sie gewarnt.

Anhand dieser knappen Überlegungen zum Läuten zeigt sich bereits, dass akustische Wahrnehmungen auch in der Vormoderne von nicht zu unterschätzender Bedeutung und elementare Bestandteile des Alltags waren. Weil die originalen Klanginstrumente heute vielfach nicht mehr vorhanden sind, die Gebäude und ihre Umgebung sich verändert haben oder weil sich das Material im Laufe der Zeit gewandelt hat, sind die genauen Töne und Klänge nicht mehr rekonstruierbar. Es lassen sich aber Aussagen darüber treffen, in welchen Situationen akustische Signale genutzt wurden, wie diese wahrgenommen worden sind und welche alltäglichen und außeralltäglichen Handlungen mit ihnen verknüpft waren. Wie die Vormoderne klingt, lässt sich also nicht beantworten, dafür aber, wann und wo sie geklungen sowie wer sie auf welche Weise zum Klingen gebracht hat.