Witten in alten Ansichten

16.09.2025 Niklas Regenbrecht

Timo Luks

Im Archiv für Alltagskultur befindet sich ein Bericht von Karl Schmidthaus (1924 – 1968) aus dem Jahr 1963. Schmidthaus hatte von verschiedenen Personen stammende und in Witten aufgenommene Foto-Reproduktionen, die über Jahre gesammelt worden waren, an das Archiv übergeben und die einzelnen Bilder erläutert. „Sie zeigen“, so hieß es, „zum größten Teil nicht mehr vorhandene Häuser und alte Stadtansichten.“ In einer einleitenden Passage wurde Witten als „aufblühende Stadt am Rande des Ruhrgebiets beschrieben, zum Teil mit sehr grüner Umgebung.“ Der Stadtkern – das „ehemalige Dorf Witten“ – sei kaum noch vorhanden, habe „der letzte Krieg“ doch „fürchterliche Wunden hinterlassen“. Der verschwundene dörfliche Kern war der Dreh- und Angelpunkt des Berichts und des fotografischen Konvoluts. Die vorhandenen Bilder sollten „einen Eindruck von den einstigen Gegebenheiten vermitteln“ und „eine gute Vergleichsmöglichkeit“ bieten, „wie sich das Bild einer bestimmten Landschaft innerhalb verhältnismäßig kurzer Zeit verändern kann“.

Die Sammlung setzt mit Bildern älterer Höfe ein, die teilweise, wie den Kommentaren zu entnehmen ist, bereits vor dem Ersten Weltkrieg abgebrochen oder durch Um- und Anbauten erheblich verändert worden waren. Karl Schmidthaus wies akribisch auf verschiedene bauliche Veränderungen und architektonische Besonderheiten hin: Ein winkelig gebautes Haupthaus sei „als eine Seltenheit anzusprechen“, ein zweiter Schornstein galt als „bemerkenswert“, um nur zwei Beispiele zu nennen. Schmidthaus entdeckte auf einem Bild „noch“ eine alte, quergeteilte Tür mit „ebenfalls alten, kunstvoll geschmiedeten Verschlüssen“. Immer wieder wurde die Fachwerkbauweise hervorgehoben. Hier und da finden sich Bemerkungen zur (früheren) Nutzung eines Gebäudes oder zu Größe und Alter eines Hofs. Das Konvolut wird Schritt für Schritt zu einem fotografischen Spaziergang, der neben den älteren Höfen an städtischen Gebäuden – Apotheke, Kartoffelhandlung, Wirtschaft – vorbeiführt, Fabriken und Wohnsitze der Fabrikanten in den Blick nimmt und die unmittelbar umliegende Landschaft einfängt.

Menschen sind bei all dem selten. Zu einem Bild hieß es im Begleitbericht: „Bemerkenswert die beiden sich unterhaltenden Frauen in der Kleidung der Zeit“. Im Kommentar zur Ansicht der „Westseite des sogenannten Schwanenmarktes“ findet sich die Vermutung, dass sich hinter einer mit Schieferplatten verkleideten Hausfront wohl ebenfalls – wie bei den benachbarten Gebäuden – Fachwerk verstecken dürfte. Zudem wurde der Kontrast zu den „modernen, massiven Gebäuden“ im Hintergrund betont – die auf der Straße spielenden Kinder fanden dagegen keine Erwähnung.

Hausansicht Schwanenmarkt, Witten, 1928, Archiv für Alltagskultur in Westfalen, 0000.26288.

Die Aufnahmen der Wirtschaft „Zur alten Zeit“ zeigen eine recht belebte Straßen, aber auch hier fanden nur die baulichen Aspekte Eingang in den Bericht. Zum Foto des Hauses Marktstraße Nr. 1 heißt es immerhin: „Auf dem Bild sind Straßenbauarbeiter vor dem Hause beschäftigt.“

Hausansicht Marktstraße 1, Witten, 1928, Archiv für Alltagskultur in Westfalen, 0000.26301.

Dieses Bild ist auf 1928 datiert, und es stellt sich die Frage, ob hier nicht tatsächlich die Straßenbauarbeiten dokumentiert werden sollten. Karl Schmidthaus fiel vor allem auf, dass die schmale Giebelfront des Hauses Nr. 1 „aus der Reihe weit höherer und massiver modernerer Häuser“ hervorragte.

Mein persönliches Lieblingsbild zeigt „Haus Oberstraße 15, Ecke Bergstraße“.

Hausansicht Kartoffelhandlung, Oberstraße 15, Ecke Bergstraße, Witten, 1928, Archiv für Alltagskultur in Westfalen, 0000.26303.

Karl Schmidthaus schrieb dazu:

„Es ist die Kartoffelhandlung Hugo Hohrath im Jahre 1928. Auch hier wieder die über dem Hohen Sockel beginnende Schieferverkleidung und die einseitige Verbreiterung der Giebelfront. Auffällig ist auch, daß man nach hinten zu ein vollkommen anders gestaltetes Bauwerk angehängt hat. Auch dieses Haus hat den Krieg nicht überlebt.“

Hätte ich das Bild kommentieren müssen, hätte ich betont, dass im Sockelbereich des Hauses, auf einer Art Fensterbank, ein junger Mann sitzt: in sportlich-lässiger Pose, die übereinander geschlagenen Beine mit Kniehose und Kniestrümpfen bekleidet. Und neben ihm lehnt ein Rennrad, leicht zu erkennen am Lenker. Was für einen Beobachter der frühen 1960er Jahre den Charakter einer „alten“ Stadtansicht annehmen konnte, bietet gleichzeitig Hinweise auf eine hochgradig moderne Freizeitgestaltung. Etwas zugespitzt: Karl Schmidthaus interessierte sich für Gebäude, die früher „noch“ existierten, „heute“ aber verschwunden waren. Aus einer anderen Perspektive könnte man das gleiche Foto als Indiz dafür heranziehen, dass Menschen „damals schon“ Dinge in ihrer Freizeit taten, die sie nach wie vor tun. Anders als zahlreiche Gebäude sind Rennradler eben nicht „heute verschwunden“.

Obwohl Karl Schmidthaus sich eindeutig nicht auf Menschen konzentrierte, schrieb er doch an einer Stelle ein paar Zeilen, die ein altes Gebäude mit Freizeitaktivitäten in Verbindung brachten:

„In Heven, am Ölbach gelegen, stand dicht an der Grenze zum Querenburger und damit zum Bochumer Gebiet die alte Luhner oder Luhs Mühle. Ich selbst habe sie noch gut gekannt, wenn auch weniger als Mühle, so doch als bekanntes und beliebtes Ausflugslokal. Dort gab es für wenig Geld riesige Schnitten selbstgebackenen Stuten, der mit riesigen Schinkenscheiben belegt war. Damals allerdings hatte sich die Mühle schon auf modern umgestellt und das Mühlrad war nicht mehr vorhanden.“

Luhs Mühle, Witten, Archiv für Alltagskultur in Westfalen, 0000.26331 und 0000.26332.

Ganz sicher dürften einige Ausflüglerinnen und Ausflügler mit dem Fahrrad zur Mühle gefahren sein – und wer hätte sich mehr über riesige Schinkenbrote freuen können?

Die Modernisierung der Mühle, also die Umstellung „auf andere Antriebskraft“, hatte freilich ein Problem mit sich gebracht, denn mit steigendem Bekanntheitsgrad als Ausflugslokal war nun gerade das alte, nun aber funktionslose Mühlrad eine „besondere Attraktion“ geworden. Daher habe man Zuflucht zu einem „Bluff gesucht“ – und einfach „ein neues Rad an die alte Stelle“ gesetzt, dass allerdings nicht länger durch die Wasserkraft, sondern durch einen Motor angetrieben wurde.

Die Logik des Verschwindens der alten Zeiten und ihrer baulichen Zeugnisse bekam hier einen anderen Akzent. Schmidthaus berichtete im Folgenden, dass die im Krieg durch einen „feindlichen Bomber“ völlig zerstörte Mühle „in einem modernen massiven Bau wiedererstanden“ sei, „doch das Ausflugslokal gehört der Vergangenheit an.“ Ein melancholisch-nostalgischer Blick kann sich im Laufe der Zeit offenbar auch auf jene Dinge richten, die einst eine Neuerung waren und ihrerseits das Alte verdrängt oder überformt hatten.

 

Quelle:

Karl Schmidthaus, Bochum-Laer: „Bericht über eine Anzahl reproduzierter Bilder. Sie zeigen zum größten Teil nicht mehr vorhandene Häuser und alte Stadtansichten.“, Juni 1963 (Archiv für Alltagskultur, MS02330).

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