Die Würde der Anna. Künstlerisches Portrait einer außergewöhnlichen Frau

01.03.2022 Niklas Regenbrecht

Einband der Publikation, Foto: Angelika Schlüter.

Christiane Cantauw

„Du bist so unendlich weit weg“ (S.13) schreibt Angelika Schlüter in einem fiktiven Brief an ihre 1947 verstorbene Urgroßmutter Anna, der sie im wahren Leben nie begegnet ist und deren Leben ein 135seitiges Buch mit zahlreichen Fotografien nachzeichnet, das 2021 im Daedalus-Verlag erschienen ist. Das Buch bildet den Abschluss eines dreiteiligen multimedialen Kunstprojekts.

Anna wurde 1867 in einem Dorf am Fuß des Altvatergebirges geboren. Heute gehört diese Gegend zur Olmützer und zur Mährisch-Schlesischen Region Tschechiens. Weit weg ist Anna aber nicht nur deshalb, weil sie im vorletzten Jahrhundert in Mähren geboren wurde, sondern auch deshalb, weil sie nicht in einen vorgegebenen Rahmen zu passen scheint. Gerade deshalb zieht das Experiment einer Annäherung an das Leben dieser Frau die Leserschaft in seinen Bann.

Die Künstlerin Angelika Schlüter, die Filme und Hörspiele, aber auch grafische Arbeiten und vieles mehr in ihrem Repertoire hat, begibt sich für dieses Experiment auf Reisen. Sie will die Distanz zur unendlich weit entfernten Urgroßmutter verkürzen, sucht das mährische Dorf auf, in dem diese die ersten 43 Jahre ihres Lebens verbracht hat, spricht mit nahen und weitläufigen Verwandten. Sie sammelt aber nicht nur Informationen und Schriftzeugnisse wie beispielsweise Briefe sondern auch Fotografien, Pflanzen, Tiere, Artefakte und Eindrücke, die sie zu Zeichnungen und Kunstobjekten verarbeitet und an der Wand ihres Ateliers als 11m² große Collage zusammenführt. In wechselnden künstlerisch-thematischen Arrangements werden verschiedene Objekte auch auf einem Tisch präsentiert. Die sechs Tischinstallationen aus assoziativen Materialien bilden neben der Wandcollage ein eigenes, künstlerisches Element.

Blick ins Buch, Foto: Angelika Schlüter.

Auf diese Weise entstehen „Themeninseln“, die später als Fotografien Eingang in das Buch finden. Sie gliedern es in einzelne Kapitel und ermöglichen einen anderen, einen neuen Blick auf die Welt von Anna. Dieser Blick interpretiert das Prinzip der adeligen Wunderkammer um zu einer Schatzkammer der kleinen und unscheinbaren Dinge, die in immer neue Ordnungen und Zusammenhänge gebracht werden. Erbsenschoten, rostige Nägel, bunte Scherben und Hagebutten werden auf diese Weise zu einer Gesamtkomposition zusammengestellt, die aus der Reduktion auf das vermeindlich Wertlose ihren Wert bezieht.

Anna ist Teil einer dörflichen Gemeinschaft, die nur weniger Worte bedarf, weil ohnehin schon alles gesagt wurde und bekannt ist. Das Dorf lebt mit dem Wissen um die Gleichartigkeit der Verhältnisse und mit dem Vertrauen auf einen Werte- und Moralkodex, der von allen geteilt wird. Dass es ausgerechnet die ruhige und duldsame Anna ist, die mit diesem Kosmos bricht, kommt in dem Buch weniger als Ergebnis einer bestimmten Persönlichkeitsstruktur denn als unabwendbares Schicksal daher. Anna ergibt sich in ihr Anders-sein wie die Papierschiffchen, die Angelika Schlüter sie basteln, beschriften und auf die Reise schicken lässt.

Nach dem Selbstmord ihres ersten Mannes heiratet die sechsfache Mutter einen zehn Jahre jüngeren Ehemann, mit dem sie drei weitere Kinder bekommt. 1910 entschließt sich das Paar dazu, mit den Kindern Mähren zu verlassen und ins Münsterland zu ziehen, wo Johann, Annas Mann, Arbeit in einer Weberei findet. Ganz allmählich fassen Anna, Johann und die Kinder Fuß in der neuen Heimat, knüpfen Kontakte und finden Anerkennung.

Also eine Erfolgsgeschichte? Nicht unbedingt, denn dies alles geht nicht spurlos an Anna vorbei, die mit der mährischen Heimat auch ihre innere Ruhe verloren hat, sich immer wieder mit dem Zug auf den Weg machen muss, fahren muss, um sich als selbstbestimmt wahrzunehmen.

Blick ins Buch, Foto: Angelika Schlüter.

Der Erste Weltkrieg, die Verwundung zweier Söhne, die nachfolgenden Hungerjahre, eine nicht-ehelich geborene Enkelin und schließlich der Zweite Weltkrieg sind für Anna vor allem Schicksalsschläge, denen sie sich und ihre Familie hilflos ausgeliefert sieht: „Wir können nichts machen. Wir haben auch so viel mitgemacht…“, schreibt sie in einem der drei Briefe, die von ihr überliefert sind. Am 19. Februar 1947 stirbt Anna, 14 Jahre vor ihrem Mann Johann. Sie ist auf dem Friedhof ihrer neuen Heimat bestattet.

„Die Würde der Anna“ lebt von der behutsamen Herangehensweise Angelika Schlüters, die sich mit Interpretationen und Erläuterungen zurückhält und Sammelstücke, Fotografien oder Briefe sprechen lässt. Ein ums andere Mal gelingt es ihr auf diese Weise, neue Bilder mit einer neuen Ästhetik zu schaffen, die eher assoziative Zugänge zur Vergangenheit ermöglichen. Grüne Glasmurmeln werden so von einem Verweis auf kindliches Spiel zu einem fernen, fast blinden Spiegel, der die Erinnerung daran noch schemenhaft wiedergibt.

„Die Würde der Anna“ ist das Ergebnis eines jahrzehntelangen künstlerischen Projekts, das Angelika Schlüter als „Plädoyer für Offenheit, Toleranz und gelebte Menschlichkeit“ (S.133) verstanden wissen will. Neben dem Buch gibt es ein bereits 2016 realisiertes Hörspiel, das direkt über die Künstlerin erhältlich ist.

 

Angelika Schlüter: Die Würde der Anna. Portrait einer außergewöhnlichen Frau, Münster 2021, 138 Seiten, zahlreiche Abbildungen.