Anton fällt in den Himmel. Ein Hörspiel von Angelika Schlüter

21.01.2022 Niklas Regenbrecht

Die Portraitzeichnung auf dem Cover des Hörspiels „Anton fällt in den Himmel“ stammt von Christine Wehe Bamberger.

Christiane Cantauw

Wer sind eigentlich die vielbeschworenen „kleinen Leute“, deren Leben die Europäische Ethnologie dokumentieren und erforschen will und wollte? Sind es die Dienstboten, die kleinen Angestellten, die unterbäuerlichen Schichten, die Arbeiter oder die Besitz- und/oder Wohnungslosen? Sind es die Landarmen oder die städtischen Unterschichten? Was bleibt von ihrem Alltag, von ihrem Leben und von ihrem Besitz?

Gerade die letztgenannte Frage stellt die Forschenden ein ums andere Mal vor ein Problem, sind es im Falle der kleinen Leute doch selten einmal die Menschen und ihre Hinterlassenschaften selbst, die von und über ihre Alltage berichten, sondern obrigkeitliches Verfügen und Handeln. Das Sagwort „Wer schreibt, der bleibt“ gilt nicht nur für die Stadtschreiber, die qua Amt Teil des Rates waren und nicht abgewählt werden konnten, sondern auch für die historische Überlieferung, die der Geschichte derjenigen, die sich schriftlich mitteilten und schriftliche Dokumente hinterließen, mehr Raum gibt als der Geschichte der Vielen, die dazu nicht in der Lage waren.

Einer derjenigen, deren Leben sich in schriftlichen Zeugnissen kaum niedergeschlagen hat, ist Anton, uneheliches Kind einer Dienstmagd, der von 1873 bis 1930 im Kernmünsterland gelebt hat. Von seinem Leben berichtet ein Hörspiel der Künstlerin Angelika Schlüter, die sich erzählerisch auf die Spur ihres Urgroßvaters begeben hat.

In mehrjähriger Recherche hat sich Angelika Schlüter nicht nur mit den Örtlichkeiten des Geschehens („Das Haus mit dem tiefen Dach, die alte Eiche und der Weg ins Moor“), sondern auch mit der (klein)regionalen Geschichte und Kultur auseinandergesetzt. Sie befasste sich mit Fragen des Wohnens und Arbeitens (Viehhaltung, Torfstechen) ebenso wie mit den Lebensumständen der unterbäuerlichen Bevölkerung im Wandel der Jahreszeiten. Leben wird hier geschildert als Kampf ums Überleben, der wenig Raum lässt für soziales Miteinander, Liebe und Fürsorge. Selbst die „uralten Traditionen“, die die Nachbarschaft vorschreibt, sind in diesem Kontext eher Zwang und soziale Kontrolle als Unterstützung in der Not.

Die umgebende Natur lieferte Rohstoffe und war für die Landbevölkerung vor allem ein Arbeitsplatz. Das bedeutete aber nicht, dass jahreszeitliche Veränderungen nicht genau beobachtet wurden.

Das von Georg Bühren eingesprochene 40-minütige Hörspiel, das mit eindringlicher Cello-Musik von Mathis Ubben untermalt ist, bietet weniger eine Dokumentation historischer Fakten und Quellen als vielmehr ein sich tastendes Annähern an historische Verhältnisse. Frappierend ist dabei, dass es Schlüter gelingt, mit wenigen Worten eine Atmosphäre zu schaffen, die die Widrigkeiten des Alltags ihres Protagonisten verdeutlicht, ohne ins Moralisierende oder Anklagende zu verfallen. Sie bedient sich zu diesem Zweck einer reduzierten Sprache, die mit ihrer Schnörkellosigkeit eine Parallele zur Nüchternheit und Härte des historischen Alltags bildet.

Dass sich dieser Nüchternheit noch poetische Momente abringen lassen, ist das Verdienst dieses Hörspiels, das an der ein oder anderen Stelle immer mit unerwarteten Lichtblicken in der oft düsteren Welt von Anton aufwartet.

Schlüter stellt mit „Anton“ unter Beweis, was eine künstlerische Beschäftigung mit historischen Alltagen zu leisten vermag: Sie kann – jenseits der Feststellung eines so und nicht anders Gewesenen – ein Bewusstsein schaffen für die Instrumente und Auswirkungen von Macht und Ausgrenzung. Und sie kann Interesse wecken für das Leben der Anderen in Geschichte und Gegenwart. Wenn das gelingt, ist schon viel erreicht.

Das Torfstechen im nahe gelegenen Emsdettener Venn bildete neben der Landwirtschaft die Lebensgrundlage der umwohnenden Bevölkerung.

Anton fällt in den Himmel. Ein Hörspiel von Angelika Schlüter (Die CD ist gegen eine Gebühr von Euro 15,- erhältlich über die Künstlerin (www.angelikaschlueter.de).
Das von Nadine Strauß gestaltete Booklet enthält neun Fotografien, die in der Jetztzeit vom Ort des Geschehens aufgenommen wurden. Auf einer CD-Rom mit einem Videofilm, die dem Hörstück beiliegt, befindet sich der Kurzfilm „Ludwig hat’s gesehen“. Aus der Warte eines Nachbarn von Anton wird darin ein unerwartetes Schlaglicht auf die Ereignisse um den Tod von Anton und seiner Frau geworfen.