Jahresschwerpunkt: Sammeln & Aufbewahren: Arbeiterjugend im Archiv

23.05.2025 Niklas Regenbrecht

Archivleiterin Dr. Maria Daldrup im Magazin.

Maria Daldrup, Leiterin des Archivs der Arbeiterjugendbewegung in Oer-Erkenschwick im Gespräch mit Andreas Eiynck, dem stellvertretenden Vorsitzenden der Kommission Alltagskulturforschung für Westfalen.

 

Frau Daldrup, können Sie etwas zur Entstehung und zur Trägerschaft des Archivs der Arbeiterjugendbewegung berichten?

Maria Daldrup: In den 1970er Jahren stand in Gelsenkirchen, Sitz des nordrhein-westfälischen Landesverbandes der Sozialistischen Jugend Deutschlands (SJD) – Die Falken, ein Bücherregal, in dem alte Ausgaben der Zeitschrift „Arbeiter-Jugend“ gesammelt wurden. Sukzessive füllte es sich mit mehr und mehr Ausgaben dieses Organs und weiteren Materialien zur Geschichte der Arbeiter:innenjugendbewegung. Das waren beispielsweise Erinnerungen ehemaliger Mitglieder der Sozialistischen Arbeiter-Jugend (SAJ) und der Reichsarbeitsgemeinschaft der Kinderfreunde (RAG), beide der Sozialdemokratie nahestehende und 1933 verbotene Kinder- und Jugendverbände und Vorläufer der SJD – Die Falken. Es dauerte nicht lange und der Raum, in dem dieses Regal stand, erhielt die Bezeichnung „Archiv“. Das, so könnte man sagen, war der Beginn des Archivs der Arbeiterjugendbewegung. Der Entschluss allerdings, aus diesem ersten Regalmeter mittelfristig ein Archiv mit vielen weiteren laufenden Metern zur Geschichte der Arbeiter:innenjugend zu gründen, fiel 1973 bei der Bundeskonferenz der Falken. Zehn Jahre später, am 16. September 1983, wurde das Archiv der Arbeiterjugendbewegung (AAJB) in Oer-Erkenschwick – unmittelbar neben der Jugendbildungsstätte Salvador-Allende-Haus/Sozialistisches Bildungszentrum – offiziell eingeweiht.

Mit den Falken ist das Archiv nach wie vor eng verbunden, insbesondere mit dem Landesverband NRW als Dienstherr des Archivs, dem Bundesverband der SJD – Die Falken sowie dem Zeltlagerplatz e. V., der als Vermögensträger die Finanzen im Blick hat. Finanziert wird das Archiv aus Mitteln des Kinder- und Jugendförderplans des Landes NRW, hinzu kommen die jährlichen Mitgliedsbeiträge aus dem Förderkreis „Dokumentation der Arbeiterjugendbewegung“ sowie Spenden.

Blick in den Magazinraum.

Welche Idee und welche Bestände verbergen sich hinter dem Namen „Archiv der Arbeiterjugendbewegung“?

Ohne die zunehmende Bedeutung einer „Geschichte von unten“ seit den 1970er Jahren wäre das AAJB sicherlich nicht gegründet worden. Das steigende Bewusstsein für die Geschichte der vielfältigen sozialen Bewegungen und ganz konkret: das Bewusstsein der SJD – Die Falken für die Sichtbarmachung und Erforschung ihrer arbeiter:innenjugendbewegten Quellen und Erinnerungen – führte dazu, dass ihre Geschichte nun in einem Archiv dokumentiert wird, das heute und in Zukunft für Forschung und Öffentlichkeit zugänglich ist.  

Das AAJB versteht sich aber keineswegs als reines Verbandsarchiv der Falken, sondern sichert auch Quellen von verschiedenen Verbänden, Bewegungen, Gruppen und Personen, die sich in der Tradition der Arbeiter:innenjugendbewegung des frühen 20. Jahrhunderts sehen. Auf rund 4.000 Regalmetern verwahrt es neben Akten und Sammlungsgut aller Gliederungen der SJD – Die Falken, Bestände der RAG, der SAJ, des International Falcon Movement sowie Materialien von Gewerkschaftsjugend, Naturfreundejugend, des Jugendwerks der Arbeiterwohlfahrt, der Christlichen Arbeiterjugend, von Hashomer Hatzair Deutschland sowie Hunderte Vor- und Nachlässe von Personen aus dem Umkreis der Arbeiter:innenjugendbewegung.

Die historische Fotokartei.

Wer sind die wichtigsten Nutzer:innen und Besucher:innen Ihres Archivs?

Im Gegensatz zu einem Stadtarchiv sind es nicht unbedingt Heimatforschende, die sich an das AAJB wenden, auch nicht nur Geschichts-, Sozial- oder Erziehungswissenschaftler:innen oder Vertreter:innen von Medien und Kultur, gleichwohl aus diesen Bereichen regelmäßig Anfragen kommen. Es sind vielmehr Mitglieder aus den Jugendverbänden selbst, die sich an das AAJB wenden, um Materialien und Hilfestellungen für ihre historisch-politische Bildungsarbeit zu erhalten. Darunter sind auch ehemalige Mitglieder z. B. der Falken oder Gewerkschaftsjugend, die sich anhand von Archivalien über vergangene Ereignisse informieren oder aber sich mit der Geschichte der Arbeiter:innenjugendbewegung als Teil ihrer eigenen Geschichte auseinandersetzen möchten.

Blick in das Fotodepot.

Welchen Stellenwert haben in Ihrer Sammlung neben dem klassischen Archivgut weitere Medien wie Fotos, Filme und Audio-Formate?

Heute wie damals kommunizieren junge Menschen nicht nur in schriftlicher Form, sondern drücken sich über Kleidung, Frisuren, Musik, Bewegung und vieles mehr aus. Dies muss sich auch in den Archivbeständen zur Arbeiter:innenjugendbewegung niederschlagen, sodass zu unserem Sammlungsgut auch Fotografien, Filme, Audios oder  Postkarten, Flugblätter, Plakate, Textilien oder kleinformatige Druckwerke gehören. Gerade hier ist uns die sukzessive Digitalisierung und damit langfristige Sicherung sowie leichtere Nutzbarkeit für Forschung und Bildungsarbeit enorm wichtig. Im Jahr 2023 haben wir beispielsweise unsere Video- und Audiokassetten mit ihren sensiblen Magnetbändern komplett digitalisieren lassen.

Das umfangreiche Filmarchiv.

Gibt es Spezialbestände oder auch ungewöhnliche Sammlungen, die sich in den Regalen ihres Archives verbergen und die man hier vielleicht gar nicht vermuten würde?

Tatsächlich, die gibt es: unsere Fußballfanzinesammlung mit weit über 600 Titeln. Zumindest auf den ersten Blick ungewöhnlich, bei näherer Betrachtung aber durchaus zu unserem Sammlungsprofil passend: Oft stamm(t)en die jungen Redakteur:innen dieser von Fans für Fans gestalteten Hefte aus dem Arbeiter:innenmilieu. Die Fußballfanzinesammlung im AAJB gehört nicht nur zu den europaweit größten ihrer Art, die Fanzines haben auch einen besonderen Stellenwert als Quellen zur Geschichte von Jugendkulturen. Übergeben wurde sie Mitte der 1990er Jahre. Wir freuen uns immer, wenn wir die Sammlung um weitere Hefte ergänzen können!

Fotoalbum zur 'Kinderrepublik Namedy' von 1929.

Welchen Auftrag hat Ihre Einrichtung über die Aufbewahrung von Archivgut hinaus und wie nehmen Sie diese Aufgabe wahr?

Wir verstehen uns explizit als Vermittlungsort, als Institution der demokratischen, historisch-politischen Bildung für Menschen aus unterschiedlichen Milieus. Am besten lässt sich dies über unsere verschiedenen Vermittlungsformate veranschaulichen:

Auf unserer jährlichen Archivtagung bringen wir Forscher:innen, Zeitzeug:innen und aktive Mitglieder aus der Jugendverbandsarbeit über ein gleichermaßen aktuelles wie historisch relevantes Thema zu einem Wissens- und Erfahrungsaustausch zusammen. Zuletzt ging es unter dem Obertitel „Solidarität ist unsere Waffe!“ um „Internationale Begegnungen, gemeinsame Kämpfe und (enttäuschte) Hoffnungen“.

Der Forschungsworkshop „Arbeit-Jugend-Bewegung“ ist ein Forum für Forscher:innen aus dem Kontext von Arbeit, Jugend und/oder sozialen Bewegungen seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert und findet ebenfalls im AAJB statt.

In der von uns herausgegebenen Zeitschrift „Mitteilungen“ wird zwei Mal jährlich von Veranstaltungen und Forschungen zur Arbeiter:innenjugendbewegung in Aufsätzen, Tagungsberichten oder Rezensionen berichtet. Außerdem werden hier Quellen und Arbeitsbereiche des AAJB vorgestellt. Zugleich dient die Zeitschrift als Kommunikationsmedium zwischen Archiv und Förderkreis. Alle Ausgaben sind kostenfrei downloadbar unter: https://arbeiterjugend.de/publikationen/zeitschrift-mitteilungen.html.

Die „Mitteilungen“ sind nur ein Teil der Publikationstätigkeit aus dem AAJB: In der Schriftenreihe ist erst kürzlich Bd. 24 „Anna Siemsen: Mein Leben in Deutschland und weitere Texte“, hg. von Hannelore Faulstich-Wieland, Sinah Mielich und Florian Muhl, erschienen.

Ein besonderer Schwerpunkt des AAJB ist der Arbeitsbereich Archivpädagogik. Hier zeigt sich die intensive Verflechtung von Archiv und aktuellen Arbeiter:innenjugendverbänden: Die Angebote – ob nun die archivpädagogischen Handreichungen,  Workshops, Vorträge und Seminare oder auch die digitalen Angebote  – erlauben einen fach- und zugleich zielgruppengerechten Zugang zur Geschichte der Arbeiter:innenjugendbewegung und sollen einen Beitrag leisten zur historisch-politischen Bildung junger Menschen.

Die Transparentsammlung.

Was unterscheidet die archivpädagogische Arbeit an Ihrem Haus von anderen Archiven?

Grundsätzlich unterscheidet sich unsere archivpädagogische Arbeit nicht von jener in anderen Archiven: Durch die Bereitstellung von originalen Quellen und unsere historisch-politischen Bildungsangebote fördern wir die aktive, kritisch-reflektierte Auseinandersetzung mit Geschichte und stärken so Medienkompetenzen.

Unsere archivpädagogische Arbeit spricht allerdings gezielt junge Menschen im außerschulischen Bereich an, was sowohl damit zusammenhängt, dass Jugendbewegungen und -kulturen nur selten Teil der schulischen Curricula sind, als auch damit, dass wir den Falken und anderen in der Arbeiter:innenjugendverbänden nahestehen und mit unserem archivpädagogischen Programm aktiv an einer lebendigen Verbandskultur teilhaben – ob durch Workshops auf einem Zeltlager oder einen Vortrag im Jugendzentrum. Hier ist es besonders wichtig, kreative und motivierende Zugänge anzubieten, um Neugierde und Interesse für historische Themen zu generieren.

Das Archiv der Arbeiterjugendbewegung in Oer-Erkenschwick.

Das Archiv der Arbeiterjugendbewegung in Kürze:

Adresse: Haardgrenzweg 77, 45739 Oer-Erkenschwick

Tel.: 02368-55993

E-Mail: archiv@arbeiterjugend.de

Homepage: www.arbeiterjugend.de

Facebook: Archiv der Arbeiterjugendbewegung

Instagram: aajb_insta

Weitere Informationen beispielsweise über einzelnen Archivbestände finden sich auch unter: https://demokratie-erleben.arbeiterjugend.de; https://alleredenvomwetter.com und www.protestory.de