Bauer, Provisor, Schreiber, aufgeklärter Zeitgeist – Ernst Heinrich Lindemann (1723–1796) aus Heddinghausen

23.09.2022 Niklas Regenbrecht

Innenansicht der Kirche von Holzhausen (1905).

Sebastian Schröder

Am ersten Adventssonntag 1761 begann Ernst Heinrich Lindemann, der in der Heddinghauser Neustadt die Stätte Schreyer bewohnte, seinen Dienst als Provisor der Kirchengemeinde Holzhausen. Sein Amtseid, den er vor Pfarrer Johann Elert Seemann (1713–1769) ablegen musste, verdeutlicht den Aufgabenbereich eines „Provisors“: Lindemann schwor, „mit denen Kirchen- und Armen-Mitteln in ansehung der Ein-Nahme und Ausgabe“ ordentlich hauszuhalten, säumige Schuldner an die Begleichung ihrer Zahlungsverpflichtungen zu erinnern sowie den Gebäudebestand der Gemeinde halbjährlich zu kontrollieren und notwendige Reparaturen anzuweisen. Demzufolge war der „Provisor“ oder Verwalter, wie die Zeitgenossen auch manchmal sagten, vor allem für die Finanzen des Kirchspiels verantwortlich; man könnte ihn als „Finanzminister“ der Gemeinde bezeichnen.

Lindemann wurde am 15. Juni 1723 in Heddinghausen als Sohn des Friedrich Lindemann geboren. Bei seiner Taufe am vierten Sonntag nach Trinitatis (20. Juni) erhielt er die Vornamen „Ernst Henrich“. Mit Margaretha Catharina Schlacken schloss er am ersten Sonntag nach Epiphanias (8. Januar) 1747 den Bund der Ehe. Seinen Lebensunterhalt bestritt Lindemann zum einen als Landwirt. Er hatte zu einem bislang unbekannten Zeitpunkt die Stätte Schreyer in Heddinghausen Nr. 41 angetreten; 1759 war er auf jeden Fall schon Besitzer des Gehöfts. Zu dieser kleinen bäuerlichen Besitzung gehörten ausweislich amtlicher Aufzeichnungen aus dem Jahr 1721 nur etwas mehr als drei Scheffelsaat (ungefähr 3.750 Quadratmeter) Ackerländereien sowie ein Garten. Lediglich eine Kuh nannte der damalige Besitzer Franz Henrich Schreyer sein Eigen. Wahrscheinlich organisierte Lindemann zum anderen im Auftrag der Landesregierung die Einfuhr von Salzlieferungen in das Kirchspiel Holzhausen. Im Alter von 73 Jahren und sechs Monaten starb Ernst Heinrich Lindemann am 6. Dezember 1796 an „Entkräftung“, wie Pfarrer Johann Friedrich Christian Pyllemann im Kirchenbuch notierte. Insgesamt 35 Jahre lang hatte Lindemann als „provisor der Kirche u[nd] Armen“ gedient und währenddessen vier Geistliche erlebt. Bis 1769 amtierte Pastor Seemann, ihm folgte Franz Ernst Schrader (1733–1786). August Gottlieb Hoffbauer amtierte zwischen 1786 und 1796. Ab dem 28. August 1796 predigte und wirkte Pyllemann in Holzhausen. Drei Tage nach seinem Tod, nämlich am 9. Dezember, wurde Lindemann von ihm zur letzten Ruhe geleitet.

Lindemann war nicht der erste und auch nicht der letzte Provisor der Holzhauser Gemeinde. Und dass er gleichzeitig als Landwirt einen Teil seines Einkommens erwirtschaftete, war auch nicht sonderlich außergewöhnlich. Aber Ernst Heinrich Lindemann war trotzdem eine besondere Persönlichkeit; er schrieb im wahrsten Wortsinn Geschichte. Denn während seiner Amtszeit führte er ein kleines Büchlein. Über seine eigentlichen Aufgaben als kirchlicher Verwalter erfährt der Leser daraus allerdings so gut wie gar nichts. Dafür berichtete der Provisor ausführlich und äußerst kundig über die Königs- und Fürstenhäuser sowie Republiken in ganz Europa. In den Blick gerieten etwa das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, das türkische und russische Reich, die Königtümer Portugal, Spanien, Frankreich, England, Sizilien, Sardinien, Schweden, Dänemark, Polen, Preußen, Ungarn und Böhmen, die päpstliche Kurie in Rom sowie die Republiken Venedig, Schweiz und Holland. Vor allem interessierte sich der Holzhauser Provisor für die jeweiligen Landesherren und Herrscher, die Staatsform sowie wichtige strukturelle Beschaffenheiten der genannten Territorien. Ebenso machte sich Lindemann Notizen über Kriege und revolutionäre Unruhen. Er thematisierte unter anderem den Siebenjährigen Krieg (1756–1763), den Bayerischen Erbfolgekrieg (1778/79), den preußischen Einmarsch in die Niederlande (1787) und die ab 1789 einsetzende Französische Revolution. Mit der Beschreibung der amerikanischen Unabhängigkeitsbestrebungen blickte er sogar über den europäischen Tellerrand.

Doch auch das Lokale war ihm ein Anliegen. Unglücksfälle, Teuerungs- und Notphasen, Kuriositäten, Brände, Natur- und Wetterereignisse im Kirchspiel Holzhausen sowie der näheren Umgebung sind ebenfalls Teil der Aufzeichnungen. Etwa erlebte Lindemann am 20. Januar 1767, einem frostigen Dienstagmorgen, hautnah die Auswirkungen eines Erdstoßes mit. Zwischen 9 und 10 Uhr „Gab Gott der Herre ein Erdbeben in solcher stille, das sich kein schweig [= Zweig] auf den Baum Rührete, Es schüttelten sich Alle Häuser eben Als wen sie fallen wollten, ich War Zu dem Mahl auf der Masch, da kam es Mir Vor, eben als Wen ich fallen solte. Alle Bäume bewegeten sich Ohne wind Zur erden, die erde Aber Beweget gleich wie ein schiff auf den Meer.“

Ein weiteres Beispiel zu Lindemanns Erkundigungen stammt aus dem Fürstbistum Osnabrück. Im März 1778 fällte hier ein Bauer einen alten, hohlen Eichenbaum. Das Erwähnenswerte: Im Innern des Baumes fand sich die Leiche eines englischen Soldaten, wie man anhand der Uniform erkennen konnte. Vermutlich floh der Soldat während des Siebenjährigen Krieges und suchte Schutz im Wipfel der Eiche. Dabei fiel er in den ausgehöhlten Stamm hinein, wo er jämmerlich verendete. Die sterblichen Überreste waren regelrecht verdorrt, wie Lindemann bemerkte.

Neben diesen außergewöhnlichen und teils schrecklichen Ereignissen listete Lindemann Nachrichten über die Pfarrer der Gemeinden Holzhausen und Preußisch Oldendorf sowie Baumaßnahmen an den kirchlichen Gebäuden (zum Beispiel der Turmbau zu Holzhausen, 1773) auf.

Leider verrät Lindemann kaum, wie er sein profundes Wissen, seine naturwissenschaftliche Expertise und geographische Kenntnis erworben hat. Er selbst spricht nur davon, dass ihm Berichte von „Weltweisen“ und „Naturkündigen“ vorliegen würden und dass er „Zeitungen“ lese – nähere Informationen sind jedoch Fehlanzeige. Man darf dennoch davon ausgehen, dass Ernst Heinrich Lindemann eingebunden war in aufgeklärte Netzwerke oder zumindest gut unterrichtet war über die Diskussionen, die die Aufklärer des 18. Jahrhunderts führten – Lindemann darf deshalb ohne Zweifel als „aufgeklärter Zeitgeist“ charakterisiert werden.

Fortsetzung folgt!

 

Quelle: Archiv der Kirchengemeinde Holzhausen, Nr. 2: Aufzeichnungen über Ereignisse, Unglücksfälle und Kriege, 1759–1792.