Jugendliche im ländlichen Westfalen. Bewegte Zeiten (auch) auf dem „platten Land“

10.06.2025 Niklas Regenbrecht

Barbara Stambolis

Jugendliche in ländlichen Regionen haben in wissenschaftlichen Studien weniger Aufmerksamkeit gefunden als Heranwachsende in urbanen Umgebungen. Jugendkulturell spannende Entwicklungen der 1960er und 1970er Jahre wurden vor allem für Städte nachgewiesen. Wie „tickten“ Heranwachsende in den vom gesellschaftlichen Wandel geprägten 1960er und 1970er Jahren? Eine Spurensuche in Westfalen verspricht interessante Einblicke.

Medial informiert und keineswegs abseits

Tatsächlich haftet dem ländlichen Raum für die 1960er Jahre eine negative Wertigkeit an: Die Akzeptanz trendiger „Kleider- und Haarmoden“ oder „fremdsprachige(r), elektrisch verstärkte(r) Populärmusik“ war bei der erwachsenen Landbevölkerung gering, so der Historiker Detlef Siegfried (2006, S. 359). Doch dies galt keineswegs für junge Menschen in ländlichen Gemeinden. Viele waren durch das Radio und Zeitschriften gut informiert. Die „BRAVO“ war 1956 mit rund 30.000 Exemplaren an den Start gegangen; die Zeitschrift fand in Städten und ländlichen Regionen gleichermaßen Abnehmer*innen. Sie wurde nicht nur am Kiosk gekauft, sondern auch weitergegeben, so dass die Leser*innenschaft erheblich höher war als die Auflagenhöhe der wöchentlich herauskommenden Ausgaben. Als dann das Fernsehen an Bedeutung gewann, interessierten Heranwachsende die „Hitparade“ und die „disco“-Sendungen, die von Dieter Thomas Heck ab 1969 respektive von Ilja Richter ab 1971 moderiert wurden und im ZDF zu sehen waren.

Bescherung unter dem Weihnachtsbaum, 1970. Fotoalbum der Familie S. Archiv für Alltagskultur in Westfalen, Sammlung BF Nr. 16f S38.

In einem der bäuerlichen Familienfotoalben, welche die Kommission für Alltagskulturforschung sammelt, findet sich dazu ein interessantes Foto: Es zeigt Geschenke unter einem Weihnachtsbaum, darunter zwei Schallplatten: eine Single von Bata Illic und eine von Roy Black. Beide waren 1968 erschienen. Roy Black trat 1969 in der ersten Sendung der ZDF-Hitparade mit „Ich denk an Dich“ auf. Illic eroberte mit „Morgenrot und Abendstern“ sowie „Mit verbundenen Augen“ die Charts; Black gelang mehrfach der Sprung auf Platz eins der deutschen Hitlisten.

Durch die Platzierung der beiden Singles unter dem Weihnachtsbaum deutet sich an, dass sie vermutlich mit Rücksicht auf einen jugendkulturellen Geschmack zu Weihnachten 1968 verschenkt wurden. Weitere Fragen müssen an dieser Stelle unbeantwortet bleiben: Wer hat sie wem geschenkt? Wer hat sich die beiden Singles gewünscht? Wie fiel die Reaktion auf die beiden Geschenke aus?    

Jugend selbstbestimmt – auf dem „platten Land“

In Selbstzeugnissen der organisierten westfälischen Landjugend aus den 1960er und 1970er Jahren wird deutlich, dass die überwiegende Mehrheit ihrer Mitglieder sich ländlichen Traditionen verbunden fühlte und zugleich aktuellen jugendkulturellen Trends folgte. Wie in Klein-, Mittel oder Großstädten wünschten sie sich eigene Räume, „Jugendzentren“, in denen sie ihre Freizeit mit Gleichaltrigen ohne Kontrolle Erwachsener verbringen konnten. Manche Kreisjugendämter förderten die Einrichtung von Treffpunkten, die Heranwachsende weitgehend in Eigenregie gestalten konnten. So unterstützte beispielsweise das Kriesjugendamt Soest Gitarrenkurse in einem „Haus der offenen Tür“ in Eickelborn. Finanzielle Zuschüsse gab es auch für Reisen der Landjugend, beispielsweise zur Grünen Woche in Berlin oder für Begegnungen mit Jugendlichen im Ausland.

Das Motto des Landjugendtages in Bielefeld 1968: „Jugend – Kritik und Verantwortung“ hätte nicht zeitgemäßer gewählt werden können. „Selbstbestimmung“ wurde in den Folgejahren zum Fahnenwort mit großer emotionaler Schlagkraft und durchzog die gesellschaftskritische Programmatik der westfälischen Landjugendveranstaltungen in den 1960er und 1970er Jahren.

Organisiert über die westfälische Landjugend nahmen Jugendliche aus dem ländlichen Westfalen an Friedensdemonstrationen in Berlin und Bonn teil, protestierten gegen den Ausbau der Atomenergie und für die Unterstützung von Projekten, die sich der ländlichen Bevölkerung in Ländern Afrikas und Lateinamerikas annahmen. Eine ganze Reihe junger Menschen, die sich in der Westfälisch Lippischen Landjugend engagierten, betätigten sich also in lockerer Weise in der Friedens- und Umweltbewegung jener Jahre, die Menschen aus mehreren Altersgruppen, mit den verschiedensten lebensgeschichtlichen Hintergründen und Anliegen zusammenbrachte. Die Titelseite einer Broschüre zum Landjugendtag 1980 in Meinerzhagen zeigt eine Grafik, in deren Vordergrund eine jugendliche Rückenfigur mit Gummisstiefeln auf einem Acker zu sehen ist, den Blick auf Strommasten und möglicherweise das Atomkraftwerk in Hamm-Uentrop gerichtet, dessen Errichtung und Inbetriebnahme als Bedrohung empfunden wurde und von heftigem Protest begleitet war.

Die auf dem Land lebenden Jugendlichen waren auch insofern ‚Kinder ihrer Zeit‘, als sie ihr Lebensgefühl in popkulturellen Songs gespiegelt fanden, die altersgruppenspezifisch waren. So ließen sie sich für den Landjugendtag 1980 in Meinerzhagen von dem damals aktuellen Hit „Another Brick in the Wall“ der britischen Rockgruppe Pink Floyd inspirieren, der in kürzester Zeit internationale und auch die deutschen Charts eroberte. Die vielfältig deutbaren zentralen Zeilen „Hey, Teacher, leave us Kids alone. All in all you’re just another Brick in the Wall“ sprachen vielen offenbar aus dem Herzen. Sie griffen den Song in einem Sketch auf und fassten zusammen, wie die Botschaft verstanden werden sollte: „Die Politiker sagen: ‚Wir brauchen eine junge Generation mit Selbstvertrauen.‘ – Und meinen Wählerstimmen. Die Politiker sagen: ‚Wir brauchen eine Jugend, die mit der ihr zustehenden Fröhlichkeit ja sagt zum Leben, zur Zukunft und zur Geschichte.‘ – und sie meinen damit: ‚Fröhlich ist besser als kritisch.‘ Die Politiker sagen: ‚Jede junge Generation sucht neue Wege, neue Ziele, neue Lösungen.‘ Und meinen damit: ‚Na, ihr werdet Euch euch noch die Hörner abstoßen und dann so werden wie wir.‘ […] Wir Jugendliche sagen: ‚Lehrer, wir brauchen deine Erziehung nicht, lass deine ständige Bevormundung. Du legst nur einen Stein auf die Mauer, die uns trennt.‘  ‚Another brick in the wall.‘“ (Westfälisch-Lippische Landjugend, 1983, S. 88)       

 

Literatur:

Marcel Brüntrup: Weihnachten in bäuerlich-ländlichen Familienfotoalben aus Westfalen https://www.alltagskultur.lwl.org/de/blog/weihnachten-in-baeuerlich-laendlichen-familienfotoalben-aus-westfalen/ (zuletzt aufgerufen am 2.4.2025).

Klaus Farin, Günter Mey (Hg.): WIR. Heimat – Land – Jugendkultur, Berlin 2020.

Detlef Siegfried: Urbane Revolten, befreite Zonen. Über die Wiederbelebung der Stadt und die Neuaneignung der Provinz durch die „Gegenkultur“ der 1970er Jahre, in: Adelheid von Saldern (Hg.): Stadt und Kommunikation in bundesrepublikanischen Umbruchszeiten, Stuttgart 2006, S. 351-266.

David Templin: Freizeit ohne Kontrollen. Die Jugendzentrumsbewegung in der Bundesrepublik der 1970er Jahre, Göttingen 2015.

Barbara Stambolis: Jugend in Bewegung. Soest in den 1950er, 1960er und 1970er Jahren, in: Soester Zeitschrift 2025, in Vorbereitung.

Quellen:

Ulrich Planck: Landjugend im sozialen Wandel. Ergebnisse einer Trenduntersuchung über die Lebenslage der westdeutschen Landjugend, München 1970.

Westf. Lipp. Landjugend: Bleibt auf dem Lande und wehret euch täglich. Was wird aus unserer Demokratie? Münster, um 1982.

Moment mal. Festzeitschrift der Westfälisch-Lippischen Landjugend. 50 Jahre WLL, Münster 1997.

Westfälisch-Lippische Landjugend e.V. (Hg.): Geschichte der Westfälisch-Lippischen Landjugend, Münster 1983.