Weihnachten in bäuerlich-ländlichen Familienfotoalben aus Westfalen

20.12.2022 Niklas Regenbrecht

Bürgerliches Familienidyll? 1920er Jahre. Fotoalbum R.D. Archiv für Alltagskultur in Westfalen, Sammlung BF Nr. 18f S39.

Marcel Brüntrup

Der Familienvater im Sonntagsstaat steht neben dem Klavier und blickt über die Köpfe seiner Töchter hinweg zum festlich geschmückten Weihnachtsbaum, der erhöht auf einem weiß gedeckten Tischchen thront. Eines der Mädchen sitzt mit dem Rücken zur Kamera am Klavier – auch sie hat den Blick zu den funkelnden Christbaumkugeln erhoben, so dass man im Profil ein leises Lächeln erahnen kann. Ihre Schwester sitzt daneben und studiert einen Bogen Papier in ihren Händen, vermutlich Text und Noten eines Weihnachtsliedes. Die sorgsam auf dem Klavier drapierten Porzellanfiguren, das prunkvolle Holzbarometer an der Wand und die florale Jugendstiltapete vervollständigen die Szene: Dokumentiert die im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts aufgenommene Fotografie also einen harmonischen Weihnachtsabend, den eine städtisch-bürgerliche Familie mit gemeinsamem Musizieren verbringt?  Nein, denn hier setzte sich eine bäuerliche Familie in Szene, die ein Foto vom bürgerlich anmutenden Ambiente ihres familiären Weihnachtsfestes in ihr Fotoalbum klebte, so dass sich ein bildlicher Beleg ihrer Weihnachtsfeier über hundert Jahre hinweg erhalten hat. Betrachtet man die gesamte Seite, auf der das Bild ins Album eingeklebt wurde, wird der bäuerlich-ländliche Lebenszusammenhang der Familie ersichtlich. Um das Weihnachtsmotiv herum finden sich Fotos der beiden Mädchen, die in anderen Jahreszeiten aufgenommen wurden: auf dem Bauernhof der Familie und im Grünen, mit dem Hofhund und umgeben von freilaufenden Hühnern.

Das vorliegende Album ist Teil eines Bestands, der insgesamt 90 Fotoalben und vier Einzelbild-Konvolute aus bäuerlich-ländlichen Haushalten in Westfalen umfasst. Sie wurden im Rahmen eines Sammlungs-, Dokumentations- und Forschungsprojekts der Kommission Alltagskulturforschung für Westfalen gesammelt und digitalisiert. Die in den Alben enthaltenen Fotografien entstanden zum überwiegenden Teil im 20. Jahrhundert und bieten aus der Warte der bäuerlichen Familien wertvolle Einblicke in unterschiedliche Aspekte des zeitgenössischen ländlichen Alltagslebens und seines Wandels. Dazu gehören beispielsweise Fotografien vom bäuerlichen Hof und Grundbesitz, von landwirtschaftlichen Arbeiten und Arbeitsgeräten, von auf dem Hof lebenden Tieren sowie von Ausflügen, Reisen und Freizeitaktivitäten. Zu den häufigsten Motiven zählen Familienzusammenkünfte anlässlich traditioneller Übergangsrituale wie Taufe, Kommunion, Geburtstag und Hochzeit – und Feste und Feiern, die den Arbeitsalltag durchbrechen wie beispielsweise das Weihnachtsfest.

Die oben beschriebene Fotografie stellt innerhalb des Bestands allerdings eine Besonderheit dar, denn aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts liegen auffällig wenige Aufnahmen vor, die als Weihnachtsfotos zu identifizieren sind. Möglicherweise ist das damit zu erklären, dass sich die im Bürgertum beliebte Ausgestaltung dieses Festtages, im engsten Kreis der Familie und mit einem Christbaum in der eigenen Wohnstube, nur langsam in Westfalen durchsetzte. Vor allem auf dem Land lebende katholische Familien taten sich zunächst schwer, Symbole des städtisch-bürgerlichen Weihnachtsfestes wie den Weihnachtsbaum oder die Hausmusik zu übernehmen. Wie selten etwa Weihnachtsbäume in Privathäusern noch bis in die 1920er Jahre hinein waren, belegen Berichte aus dem Archiv für Alltagskultur. Dort heißt es, dass die Kinder zu dieser Zeit sonn- und feiertags durch die Nachbarschaft zogen und diejenigen Häuser besuchten, die bereits über einen geschmückten Baum verfügten. Gemeinsam sangen sie dort Weihnachtslieder und ließen sich mit Äpfeln, Nüssen und Gebäck beschenken.

Abendgebet vor der Weihnachtskrippe, 1941. Fotoalbum R.D. Archiv für Alltagskultur in Westfalen, Sammlung BF Nr. 18a S34.

Die meisten Weihnachtsfotos in den vorliegenden Alben sind in den 1950er bis 1970er Jahren entstanden, der Weihnachtsbaum ist zu dieser Zeit auch auf dem Land fest in die familiäre Weihnachtsfeier integriert. Thematisieren ein Foto oder eine ganze Albumseite das Weihnachtsfest, dann darf er nicht fehlen. Im Zentrum der weihnachtlichen Feier steht aber nicht der Baum, sondern die Kinder werden in Szene gesetzt: Fotos der Jüngsten auf dem Arm der Eltern oder Großeltern, beim Bestaunen der Geschenke oder beim gemeinsamen Singen und Musizieren – all das wird am liebsten vor dem mit Papiersternen, Kerzen und reichlich Lametta behangenen Tannenbaum abgelichtet.

Dem Weihnachtsbaum kommt dabei insofern eine besondere Rolle zu, weil er auf einen Blick ersichtlich macht, dass die Aufnahme an Weihnachten gemacht wurde. Die immer wiederkehrenden Fotos von Eltern und Großeltern mit ihren Enkeln und Kindern zeigen jedoch mehr als ein harmonisches, vermeintlich bürgerliches Familienidyll. Sie demonstrieren die Möglichkeit einer Fortführung der familiären Tradition auf der Hofstelle. Wie sehr sich die Weihnachtsfeste in der Stadt und auf dem Land ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts angleichen, lässt sich an der Bescherung der Familienmitglieder und insbesondere der Kinder mit Weihnachtsgeschenken ablesen. Die Fülle der Geschenke unter dem Christbaum dokumentiert in manchem Album den rapiden wirtschaftlichen Aufschwung der 1950er und 1960er Jahre, der immer weitere Bevölkerungsschichten erreichte und schon früh mit Klagen über vermeintlichen „Konsumterror“ einherging.

Kaufmannsladen unter dem Weihnachtsbaum, 1960. Fotoalbum der Familie S. Archiv für Alltagskultur in Westfalen, Sammlung BF Nr. 16d S31.

Ab den 1970er Jahren dominieren in den Alben schließlich Farbfotografien, die beinahe aus der heutigen Zeit stammen könnten – läge da nicht die Roy Black Schallplatte unter den Präsenten. Die Hochzeit des analogen Fotoalbums – wie auch des deutschen Schlagersängers – war zu dieser Zeit allerdings schon fast vorüber. Fotografien aus den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts sind in den Alben merklich seltener vertreten, obgleich die Praxis der Amateurfotografie alles andere als nachließ. Die stetig anwachsende Zahl der Fotos verschwand jedoch immer häufiger ungeordnet in Schubladen, Schuhkartons oder den Papiertüten der Fotogeschäfte. Das Album als Präsentations- und Aufbewahrungsform privater Aufnahmen wurde zeitweilig durch Diaabende und -kästen abgelöst, mit der weiten Verbreitung der Digitalfotografie zur Jahrhundertwende schließlich obsolet.

Bescherung unter dem Weihnachtsbaum, 1970. Fotoalbum der Familie S. Archiv für Alltagskultur in Westfalen, Sammlung BF Nr. 16f S38.

Bei den bäuerlich-ländlichen Familienfotoalben aus Westfalen handelt es sich um einen außerordentlich vielseitigen Bestand mit zahlreichen Ansatzpunkten für spannende historische und alltagskulturelle Analysen. Die komplexen und ohne weiteren Kontext nicht immer leicht zu beantwortenden Fragen danach, mit welcher Absicht diese Alben angelegt wurden, nach welchen Kriterien ihre Inhalte ausgewählt und angeordnet und wie sie im familiären Alltag verwendet wurden, verweisen auf die vielfältigen sozialen Gebrauchsweisen der Fotografie im Allgemeinen und privater Fotoalben im Besonderen. Gleichzeitig können sie uns anregen, über unseren eigenen Umgang mit der Fotografie im alltäglichen Kontext – beispielsweise auf der nächsten Weihnachtsfeier – nachzudenken.

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Schlagwort: Marcel Brüntrup