Die Kriegschronik des Gymnasiums Dionysianum in Rheine

29.11.2022 Niklas Regenbrecht

Umschlag der von Hermann Rosenstengel verfassten Kriegschronik des Gymnasiums Dionysianum in Rheine (gedruckt bei Verlagsanstalt Felix Post, Gelsenkirchen-Buer), Bibliothek der Kommission Alltagskulturforschung, Sign. O m 163 (Foto: Cantauw, KAF).

Christiane Cantauw

Unter den sogenannten Kleinschriften findet sich in der Bibliothek der Kommission Alltagskulturforschung mit der Signatur O m 163 eine 112 Seiten umfassende, etwa DIN-A5 große Broschüre mit dem Titel „Kriegschronik des Gymnasiums Dionysianum Rheine 1939 – 1947“. Eine handschriftliche Widmung auf der ersten Seite belegt, dass der Autor Hermann Rosenstengel die Broschüre am 4. September 1951 Wilhelm Brockpähler, seinerzeit Geschäftsführer des Westfälischen Heimatbundes, überreichte. Hermann Rosenstengel lenkte unterhalb seiner Widmung die Aufmerksamkeit des Beschenkten auf eine Fotografie am Ende der Veröffentlichung, die das Emshochwasser 1946 dokumentiert.

Der 1887 in Büren geborene Hermann Rosenstengel trat am 1. April 1914 seinen Dienst als Oberlehrer, ab 1918 unter der Amtsbezeichnung Studienrat, am Rheiner Traditionsgymnasium Dionysianum an. Nach der durch den Zweiten Weltkrieg bedingten Schulschließung nahm er am 4. Februar 1946 den Dienst wieder auf, musste jedoch am 1. Juni 1947 aufgrund einer Erkrankung in den Ruhestand treten. Am 11. Oktober 1953 starb er. Die erste Phase des Ruhestandes nutzte der Studienrat i. R. unter anderem zum Abfassen einer „Kriegschronik“ seiner Schule. Er erfüllte damit auch eine Forderung des Provinzialschulkollegiums, das nach dem Zweiten Weltkrieg von den Schulen im Regierungsbezirk Münster Berichte über „Kriegsgeschehen und Schule“ angefordert hatte. Sie sollten wohl dazu dienen, die räumliche und fachliche Situation der Schulen im Regierungsbezirk besser einschätzen zu können.

Die von Hermann Rosenstengel verfasste Chronik geht aber inhaltlich und hinsichtlich ihres Umfangs über das von der Schulaufsicht Geforderte weit hinaus; dies vermerkte auch der Schulleiter Oberstudiendirektor Wilhelm Hilgenberg in seinem Geleitwort. Daher entschied man sich wohl, die Chronik drucken zu lassen und sie zu verkaufen. Der Erlös sollte dem Wiederaufbau des Gymnasiums, das am 17. Mai 1945 durch einen Brand teilweise zerstört worden war, zugutekommen.

Das 1658/59 von Franziskanern gegründete Gymnasium, das seit 1675 den Namen Dionysianum trägt und das 1861 zum Vollgymnasium erhoben wurde, ist die älteste gymnasiale Einrichtung der im nördlichen Münsterland gelegenen Textilarbeiterstadt Rheine; der Einzugsbereich der Schule ging jedoch weit über die Stadt hinaus. Das Dionysianum hatte sich einem humanistischen Bildungsprogramm verschrieben, in dem die Altphilologie lange Zeit eine dominante Rolle spielte. Bis 1965 stand die Schule ausschließlich männlichen Kindern und Jugendlichen offen.   

In den zwölf Kapiteln des ersten Teils seiner Chronik schildert Hermann Rosenstengel die einzelnen Kriegsjahre aus der Warte eines Lehrers. Sein Augenmerk liegt auf allem, was einen geregelten Schulbetrieb behinderte: Erlasse des NS-Schulministeriums, Beschlagnahmung der Turnhalle zur Lagerung der Getreideernte (1940), die zahlreichen Sammlungen, für die Lehrer und Schüler in Anspruch genommen wurden (Kräuter, Knochen, Papier, Eicheln, Kastanien, Bucheckern), Luftalarme und die Einrichtung eines Luftschutzraums im Keller der Schule. Er berichtet aber auch darüber, auf welchen Wegen die nationalsozialistische Ideologie Eingang fand in den Unterricht: So wurde die für die Jugend gedachte unverkäufliche Schulausgabe des Magazins Der Adler, der von März 1939 bis September 1944 vierzehntägig erscheinenden Propaganda-Illustrierten der Deutschen Luftwaffe, kostenfrei in den Klassen verteilt und für den Unterricht genutzt. Auch erfolgte eine optische Umgestaltung der Schule im Sinne des nationalsozialistischen Regimes. Dass das Gymnasium Dionysianum sich 1937 als erste Schule in Rheine als „judenfrei“ bezeichnet hatte, verschweigt der Autor allerdings – wohl nicht nur, weil die Erklärung vor dem Berichtszeitraum liegt. Dafür integriert er die Tagesbucheintragungen des Buchhändlers Franz Th. Rieping über die „denkwürdigen Tage vor und nach dem Einzug der Engländer in Rheine“ (S. 29f.) in seine Chronik. Auch die Aufzeichnungen von Direktor Otto Langenkamp (S. 49f.) werden wörtlich wiedergegeben.     

Im zweiten Teil der Chronik werden unter der Überschrift „Besinnliches“ vorwiegend bauliche Veränderungen an und in der Schule geschildert. Eine Erinnerung an das Schülerheim in Listrup bei Lingen, eine Darstellung der verschiedenen Schüler-Sportvereine, ein Kapitel über den Ehemaligenverein (Verein Alter Dionysianer) und 25 s/w-Fotografien beschließen die Broschüre, in deren Anhang sich außerdem verschiedene Listen über das Lehrerkollegium und die Schülerschaft (einschließlich der namentlichen Auflistung der Gefallenen der beiden Weltkriege) finden.

Schule und Nationalsozialismus

Die 1947 abgefasste Kriegschronik zielt nicht auf eine kritische Auseinandersetzung oder gar Abrechnung mit dem Nationalsozialismus ab, wenn auch manchmal in Nebensätzen Kritik anklingt („Als zu Anfang 1945 unsere Kinder zum Schippen und zm Volksstrum gepreßt wurden…“, S.48). Auf der anderen Seite finden sich sowohl im Text von Hermann Rosenstengel als auch in den Schülerbeiträgen sich Formulierungen und Sichtweisen, die geprägt sind vom übersteigerten Nationalismus und Militarismus der NS-Zeit. So kommentiert Hermann Rosenstengel die Aufräumarbeiten in der Rheiner Innenstadt nach Bombenangriffen mit „Der Deutsche hat eben kein Geschick zum Verludern.“ (S.7) Und der Schüler Albin Gladen beschreibt den militärischen Einsatz einiger Schüler in Österreich, bei dem diese auf Fahrrädern mit Panzerfäusten und Gewehren bewaffnet gegen die US-amerikanischen Panzer ins Feld geführt wurden, als „Abenteuer“ (S.42). Alltäglicher Rassismus, Antisemitismus, Entrechtung und Ermordung von ganzen Bevölkerungsgruppen, Militarismus oder zielgerichtete Unterdrückung und Ausbeutung beispielsweise von Zwangsarbeiter:inne:n finden keinen Eingang in die Schilderungen Rosenstengels – fast könnte man meinen, die Sprech- und Denkweise der NS-Zeit oder die entsprechenden Denkverbote seien noch gültig. Es geht nicht um (Selbst)Kritik, Anklage oder Schuldeingeständnisse, sondern darum, die NS-Zeit hinter sich zu lassen und neu anzufangen: „Wenn diese Zeilen im Druck erschienen sind, wird hoffentlich dieses so höchst unerfreuliche [sic!] Kapitel abgeschlossen und die letzten Fälle [gemeint sind die Entnazifizierungsverfahren, d. V.] zugunsten der Betreffenden erledigt sein.“ (S.57)    

Berichtenswert ist für Hermann Rosenstengel jedoch folgender Akt „zivilen Ungehorsams“ an seiner Schule: 1943 verweigerte sich das Lehrerkollegium offenbar geschlossen, sehr begabte Schüler für die Adolf-Hitler-Schule, eine nationalsozialistische Kaderschmiede, vorzuschlagen (S.17). Auch nimmt Hermann Rosenstengel für das Kollegium in Anspruch, dass alles getan wurde, um für die Ausbildung der Schüler ungünstige politische Entwicklungen möglichst abzufedern. So suchten die Lehrer:innen ihre Schüler in den Flakstellungen auf, um mit ihnen den Lernstoff durchzugehen. Und in den letzten Kriegsmonaten verlagerten die Lehrer:innen den Unterricht sogar in die Gaststätten und Wohnzimmer der umliegenden Dörfer, weil die fast durchgängige Bombardierung des Verkehrsknotenpunktes Rheine jeglichen Unterricht in der Stadt unmöglich machte.     

Die Trauer um die im Kriegsgeschehen verwundeten, getöteten oder vermissten ehemaligen Schüler und derjenigen, „die im Volkssturm, als Schipper oder als Flakhelfer eingezogen wurden und nie wiederkehren werden“ (S.86), ist Hermann Rosenstengel deutlich anzumerken. Angesichts der Listen der vermissten und gefallenen Dionysianer, die im Anhang aufgeführt werden, klingt dann auch einmal deutliche Kritik am Nationalsozialismus an: „Im ersten Weltkrieg waren ja auch schon in höchster Not die Achtzehnjährigen herangeholt worden. Dem Dritten Reich aber blieb der traurige Ruhm vorbehalten, schulpflichtige Kinder mit Panzerfaust gegen Panzer einzusetzen.“ (S.86)

Schulleben im Wandel

Als tiefgreifende Veränderung hat Hermann Rosenstengel wohl die behelfsmäßige Unterbringung der Schülerinnen und Lehrerinnen von der Emslandschule („Hochburg weiblicher Bildung im nördlichen Münsterland“, S.8) in einigen Räumen des Dionysianums und in der ehemaligen Direktorwohnung empfunden. Die „weibliche“ Einquartierung wurde bereits 1939 erforderlich, weil die Emslandschule infolge eines Bombeneinschlags gänzlich zerstört war. Ein weiterer Einschnitt im Schulleben: 1940 erhielt das Kollegium des Dionysianums Verstärkung durch zwei „Studienassessorinnen“, denen „später noch andere weibliche Geister gleicher Art“ (S.13) folgten. Über die fachliche Qualifikation der Lehrerinnen – die promovierte, vollständig ausgebildete Gymnasiallehrerinnen waren – ist der Chronik allerdings nichts zu entnehmen, wohl aber, dass sie „die meist ergrauten Kollegen aufgemuntert“ und während der Evakuierung von Schülern nach Österreich „für viele unserer Schüler die unersetzliche Mutter gespielt“ (S.13) hätten.

Lehrerkollegium des Gymnasiums Dionysianum im Juli 1948, die beiden Studienassessorinnen Frau Dr. Krakhecke und Frau Dr. Elfert stehen in der ersten Reihe als vierte von rechts und links (Repro: Komm. Alltagskulturforschung, aus Hermann Rosenstengel, Kriegschronik …, Anhang).

Auch der Fächerkanon erfuhr deutliche Veränderungen. Am altsprachlichen Gymnasium fand 1941 zum letzten Mal eine Abiturprüfung in (Alt)Griechisch statt. Englisch wurde als erste Fremdsprache fortan bereits ab der Sexta (5. Klasse) unterrichtet, Latein – nur noch zweite Fremdsprache – erst ab der Quarta (7. Klasse). Für Hermann Rosenstengel, den Befürworter eines altsprachlich-humanistischen Bildungsideals, war dies offenbar ein Eklat.

Dies alles waren angesichts der Kinderlandverschickung einer großen Schülergruppe des Dionysianums allerdings Marginalien. In Begleitung einiger Lehrer:innen verließ im Januar 1944 ein Großteil der Schüler die Heimat Richtung Österreich. Sie wurden in Abtenau im Salzburger Land in einer Gaststätte behelfsmäßig untergebracht. Erst im Herbst 1945, also nach mehr als 18 Monaten, kehrten die letzten Schüler von dort nach Rheine zurück. Berichte von gleich drei Schülern über ihren Aufenthalt in Österreich belegen die große Bedeutung, die Hermann Rosenstengel diesem Kapitel der Schulgeschichte beimaß.    

Das Wetter

Das Wetter spielt in der Chronik dann eine Rolle, wenn es einen geordneten Unterricht behinderte. Dies gilt beispielsweise für die enormen Kälteeinbrüche in den Wintern 1942/43 und 1946/47. In diesen Zeiten musste die Schule wegen der Minustemperaturen im zweistelligen Bereich wochenlang geschlossen werden.

Auch das Hochwasser im Februar 1946 – wir berichteten in diesem Blog darüber – findet Erwähnung, weil die Schule schloss, um den Schülern den Heimweg zu ermöglichen. Zwei Fotografien im Anhang dokumentieren diese Katastrophe.

Schul-Traditionen

1940 kam es im Rahmen des Abitur-Umzugs zu einem Zusammenstoß mit der Hitlerjugend, der seitens der Parteiorgane als schwerwiegend erachtet wurde: Offenbar hatten sich die Abiturienten entschlossen, zum wohl 1933 eingeführten „Eselszug“ – einem Umzug der Abiturienten von der Schule bis zur Emsbrücke, bei dem ein Esel mitgeführt wurde – nicht nur die Abiturfahne, die sie sich hatten machen lassen, sondern auch die HJ-Fahne, die in der Schule aufbewahrt wurde, mitzunehmen. Seitens der Hitlerjugend wurde dies als Verunglimpfung der Fahne der Jugendorganisation der NSDAP aufgefasst; es wurde moniert, dass dieses Symbol nicht nur auf einem Esel durch die Stadt getragen, sondern darüber hinaus auch noch in einer Gaststätte, wo die Abiturienten nach dem Eselszug zum Festkommers einkehrten, in die Ecke gestellt worden war. Hinzu kam wohl noch ein Handgemenge auf der Emsbrücke zwischen einem der Abiturienten, dem Neffen des Direktors, und dem HJ-Bannführer, einem ehemaligen Schüler des Dionysianums. Die Folgen des Abitur-Umzugs: „wochenlange Untersuchungen und Verhöre“ (S.12), Disziplinarmaßnahmen gegen die Schüler, verbale Kritik an die Adresse des Lehrerkollegiums und die vorläufige Entfernung der HJ-Fahne aus der Schule.    

Erst die Beendigung des Zweiten Weltkriegs verhalf dem Eselszug, einem Symbol burschenschaftlicher Festkultur, wieder zu seinem Recht: „Der Chronist möchte aber vor allem erwähnen, daß diese erste Friedens-Abiturientia 1946 ihre Sache […] sehr anständig gemacht hat. Sie hat vor allem die schöne, alte Sitte mit dem Esel usw. wieder zu Ehren gebracht“. (S.55f.)   

Humanistische Bildung in der NS-Zeit

Der Kriegschronik des Gymnasiums Dionysianum von Hermann Rosenstengel ist deutlich das Bemühen anzumerken, das institutionelle Versagen der humanistischen Bildungsanstalt in der NS-Zeit zu relativieren. Die Einschränkungen und Zumutungen der Kriegszeit werden eingehend benannt und auf die Zahl der Toten unter den Schülern und Lehrern wird mehrfach hingewiesen. All das erweckt den Eindruck, als sollte dies gegen die Verbrechen des Nationalsozialismus aufgerechnet werden. Dass die Anpassung an die NS-Ideologie auch einen Verrat an den humanistischen Bildungsidealen bedeutete, wird aber angedeutet.

Zu Kritik am individuellen Verhalten einzelner Mitglieder des Lehrerkollegiums sieht sich Rosenstengel aber nicht aufgerufen. Auch die nationalsozialistischen Verbrechen an der Heimatfront oder die NS-Karrieren einzelner Schüler und Lehrer werden übergangen. In dieser Beziehung ist er ein Kind seiner Zeit, glaubte er doch offenbar, dass man durch Verschweigen und Verleugnen zur (schulischen) Tagesordnung zurückkehren könne. Was er (und viele Zeitgenoss:inn:en) übersahen, ist der alltägliche Faschismus, der sich auch in den Schulen etabliert hatte und dem mit der Forderung nach einem ‚Schlussstrich‘ nicht beizukommen war.