Von beglückenden Momenten und schweren Schicksalsschlägen: Die Tagebücher der Äbtissin Louise von Vincke (1766–1834)

25.08.2023 Niklas Regenbrecht

Seit 1795 stand Louise von Vincke (1766–1834) als Äbtissin dem Stift Quernheim vor (Aufnahme von 1977, Fotograf: Helmut Orwat, Archiv für Alltagskultur in Westfalen, 2006.00820).

Sebastian Schröder

Louise von Vincke (1766–1834) wurde 1795 zur Äbtissin des Stifts Quernheim gewählt. Damit übernahm sie die Leitung dieser geistlichen Institution für unverheiratete Töchter adliger Herkunft. In ihrer Kindheit hatte sie eine standesgemäße Ausbildung erhalten, zu der Reisen, der Besuch von Bällen oder Theateraufführungen gehörten. Bereits in früher Jugend, nämlich 1776, sicherten die Eltern für ihre Tochter einen Platz im Stift Quernheim – denn wer wusste schon, ob es mit dem erhofften reichen Ehemann klappte? Dann war es gut, abgesichert zu sein. Die Heranwachsende zog 1776 allerdings nicht sofort in das Stift ein – immerhin war sie erst zehn Jahre alt, als ihr der begehrte Platz in der Einrichtung zugesprochen wurde. Vielmehr dauerte es noch einige Zeit, ehe sie tatsächlich vor Ort weilte. Doch selbst ab diesem Zeitpunkt hielt sie sich nicht dauerhaft in Stift Quernheim auf. Denn wer glaubt, Louise von Vincke hätte als Stiftsjungfer Quernheim nie mehr verlassen, der irrt gewaltig. Genau das Gegenteil ist der Fall: Sie war äußerst reiselustig – typisch für Damen und Herren ihres Standes. Wenn sie auf Reisen gehe, erfasse sie eine gewisse „Zauberkraft“, wie die junge Frau selbst betonte.

Bei ihren zahlreichen Reisen führte Louise von Vincke Tagebuch. Von schweren Krisen, beglückenden Momenten und wahren Gefühlen berichtete die Adlige in ihren Aufzeichnungen, wie ein paar Auszüge im Folgenden beweisen.

1804 reiste Louise von Vincke gemeinsam mit ihren Eltern und zwei Geschwistern nach Ostfriesland beziehungsweise Aurich, wo ihr Bruder Ludwig seinerzeit bei der preußischen Landesverwaltung beschäftigt gewesen war. Jener Bruder erlangte übrigens später in Westfalen als Oberpräsident große Berühmtheit. Unter anderem unternahm die Familie auch einen Abstecher in die benachbarten Niederlande. Ihre Eindrücke hielt Louise von Vincke in ihrem Tagebuch fest. Dabei bemerkte sie viele Unterschiede gegenüber dem heimatlichen Westfalen:

„Wir besuchten einen königlichen Zeitpächter und sahen seine trefflich eingerichteten Viehställe und die ganze innere häusliche Einrichtung. Bemerkenswert war mir die neue Dreschmaschine, die in einem Lande, wo das Stroh nicht hoch angeschlagen wird, vielen Wert hat. Die so zweckmäßigen Dachziegel und Glasscheiben fanden meinen ganzen Beifall. In dem Milchkeller fielen mir die hölzernen Milchbehälter, inwendig blau, auswendig braun angestrichen, sehr auf. Ferner wurde durch eine Leitung das Regenwasser gesammelt, hinuntergeleitet und vermittelst eines Hahns zum häuslichen Bedarf benutzt.“ Zur Landschaft schrieb die adlige Dame: „Vergebens würde ich mich bemühen, den Reiz zu beschreiben, ein freundliches Landhaus grenzte an das andere. Schöne Blumen leiteten über große Brücken auf große Baum- und Küchengärten, in welchen die allerüppigste Vegetation sichtbar war. Dieser gesegnete Kleiboden bedarf nämlich nie eines Düngers zu seiner Verbesserung. Hier und dort fanden wir abgesonderte hübsche Nebengebäude, wo die Jugend der Familie von einem Hauslehrer unterrichtet wird. Von allen Seiten strömten uns gut gekleidete Landleute, teils zu Fuß, teils zu Wagen entgegen.“

Vordergründig scheint der Reisebericht aus Ostfriesland und den Niederlanden ein sorgloses Leben zu bescheinigen. Aber die Idylle trog. Nur wenige Jahre später besiegten die französischen Truppen Napoleons das preußische Heer und besetzten große Teile Westfalens. Napoleon krempelte die bisherigen Strukturen gehörig um. In Quernheim schrillten die Alarmglocken, weil der französische Herrscher beabsichtigte, Stifte und Klöster aufzulösen.

Dazu notierte Louise von Vincke: „Letzte Empfindungen am Abend des scheidenden Jahres 1811. Nun noch ein paar flüchtige Stunden und ein ganzes Jahr, ein wichtiger großer Abschnitt im Leben des Menschen liegt hinter uns – Gott, mein Gott und Vater, wie mächtig ergreift mich eben heute dieses Gefühl, da ich an der Schwelle eines Jahres stehe, was an traurigen Erfahrungen so furchtbar war, mir die herbsten Aufopferungen und Selbstverleugnungen aller Art kostete.“ Die bevorstehende Auflösung des Stifts erfüllte sie mit tiefer Trauer, sie sprach davon, nunmehr „von dem Glück des Lebens geschieden“ zu sein.

1813 schlug eine Allianz, der unter anderem Preußen angehörte, die französischen Truppen. Der preußische König ergriff wiederum die Landesherrschaft – Louise von Vincke war erleichtert: „Froh lege ich das Bekenntnis ab, eben in diesem Jahr hast du, himmlischer Vater, auf wunderbare Art und Weise die Wünsche von Millionen deiner Kinder erhört. Mit ihnen teile ich das unschätzbare Glück, dass wir wieder unseren Landesvater gewonnen, einer schönen Zukunft entgegensehen. Stehe mir ferner bei in dem bänglichen Kampf des Lebens.“

Aber diese politische Wende bedeutete nicht, dass die adlige Dame ihr früheres Leben wieder aufnehmen konnte. Die Auflösung des Stifts Quernheim wurde nicht rückgängig gemacht. Und so verbrachte Louise von Vincke ihren Lebensabend in Bückeburg, wo sie 1834 verschlief. Damit endete ein Leben, das geradezu idealtypisch von einer Epoche des Umbruchs und des Wandels zeugt. Als Louise von Vincke starb, war nichts mehr so, wie es knapp siebzig Jahre zuvor – bei ihrer Geburt – noch gewesen war.

 

Zuerst erschienen in: HF-Magazin. Heimatkundliche Beiträge aus dem Kreis Herford, Nr. 125, 14.06.2023, herausgegeben von der Neuen Westfälischen.

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