Neu am Institut für Kulturanthropologie / Europäische Ethnologie: PD Dr. Bettina Bock von Wülfingen

24.06.2022 Niklas Regenbrecht

Das kaum einen Millimeter große durchsichtige Ei eines Seeigels, wenige Minuten nach seiner Befruchtung, am Mikroskop gezeichnet von Oskar Hertwig 1875. [Bildquelle: Hertwig, Oscar, Beiträge zur Kenntniss der Bildung, Befruchtung und Theilung des thierischen Eies, in: Morphologisches Jahrbuch. Eine Zeitschrift für Anatomie und Entwicklungsgeschichte 1 (1876), Tafel XII]

Es ist Zeit mich vorzustellen: Anfang April dieses Jahres habe ich am Institut für Kulturanthropologie/Europäische Ethnologie als neue Mitarbeiterin eine ebenfalls neu geschaffene Dauerstelle angetreten. Seither betreue ich als Wissenschaftliche Mitarbeiterin einen Teil der Lehre des Instituts und die Organisation des Studiengang Kultur- und Sozialanthropologie und werde auch im Alltagskulturblog über Neuigkeiten aus dem Institut berichten und genieße vom Institut aus den sonnigen Blick über den Aasee.

Besonders interessiert mich in der Forschung und Lehre die Geschichte des Wissens und Wissenschaftsgeschichte. Meine Themen profitieren von einem Studium der Biologie in einem meiner ersten Abschlüsse, wenn ich mich aus historischer und kulturanthropologischer Perspektive Objekten nähere, die sowohl unseren Alltag prägen als auch in die Fachgebiete von Medizin und Biologie fallen – wie etwa Reproduktion, Regeneration, Erbe, Geschlecht oder die Theorien und Methoden der Wissenschaften selbst und deren Geschichte.

Bettina Bock von Wülfingen, seit April 2022 neue Mitarbeiterin am Institut für Kulturanthropologie / Europäische Ethnologie [Bildquelle: privat]

Weit über zehn Jahre meiner Laufbahn verbrachte ich am Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin, wo ich 2012 habilitierte und weiterhin als Privatdozentin wirke. Seither hatte ich diverse Gast- und Vertretungsprofessuren inne, wie in 2012 bis 2013 die Vertretung der Professur für Kulturanthropologie und Geschlecht am Institut für Kulturwissenschaft. Von Frühjahr 2021 an bis zu meinem Antritt vor wenigen Monaten in Münster vertrat ich an der Uni Bielefeld die Professur für Historische Wissenschaftsforschung. In den Jahren dazwischen war ich Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Exzellenzcluster Bild Wissen Gestaltung (von 2014 bis 2018) der Humboldt-Uni, wo ich meinen Fokus vor allem auf das wissenschaftliche Bild richten konnte. Und in dieser Zeit war ich auch als Fellow viel unterwegs in Archiven im Ausland, wo ich dieses Thema ausbaute, wie etwa an der McGill in Montreal oder bei einem halbjährigen Gastforschungsaufenthalt am Department of the History of Science der Harvard University.

Objektträger (Datum etwa bestimmbar auf 1934) aus der Forschung von Wilder Penfield zu Gehirnverletzungen, Material für u.a. einen Artikel zu Sammlung und Findsystemen in Berichte zur Wissenschaftsgeschichte. [Bettina Bock von Wülfingen/Wilder Penfield (1934?): Slides, Osler Library Archive, McGill University, Montreal, Penfield Fond, P 142, Series O/T]
Einband Bettina Bock von Wülfingen: Die Familie unter dem Mikroskop. Das Bürgerliche Gesetzbuch und die Eizelle 1870-1900.

Mein jüngstes Buch ist im vergangenen Jahr beim Wallstein Verlag erschienen mit dem Titel „Die Familie unter dem Mikroskop. Das Bürgerliche Gesetzbuch und die Eizelle 1870-1900“. Was hat die Eizelle mit dem BGB zu tun? Wenn Spermium und Eizelle sich bei der Zeugung vereinigen, bringen sie von beiden Seiten Erbmaterial im Embryo zusammen. Lange Zeit war das umstritten, weshalb der biologische Nachweis dieser Überzeugung von 1875, seine Folgen und deren Verflechtungen mit dem Erb- und Familienrecht im Zentrum des Buches stehen: Indem da Erbmaterial zusammengebracht und Arbeit zu verteilen und zu verrichten sei – am Nachwuchs schon im Embryo ebenso wie in der Bewirtschaftung dieses Erbkapitals – stellten sich nicht nur den Biologen politische Fragen der Gleichberechtigung und Verteilungsgerechtigkeit. – Die metaphernreiche Rede stammt in diesem Fall nicht von mir, sondern in diesem Ton schrieben darüber einige Biologen.

Ein Seeigel-Ei, noch ein paar wenige Minuten später, am Mikroskop gezeichnet von Oskar Hertwig 1875. [Bildquelle: Hertwig, Oscar, Beiträge zur Kenntniss der Bildung, Befruchtung und Theilung des thierischen Eies, in: Morphologisches Jahrbuch. Eine Zeitschrift für Anatomie und Entwicklungsgeschichte 1 (1876), Tafel XII.]

Schon Anfang des 20. Jahrhunderts hieß es in der frühen Genetik, in Rückschau auf ihre Wurzeln, den Begriff der Vererbung habe die Biologie aus dem Recht entlehnt. Das Buch nimmt diese Behauptung mit einer Begriffs- und Theoriegeschichte wörtlich, fragt nach dem örtlichen und zeitlichen Kontext und zeigt die Verflechtungen der Rechts- und der Biologiegeschichte darin auf. Denn die Fragen der Verteilungsgerechtigkeit waren virulent speziell im deutschen Kaiserreich, als genau in dem Zeitraum zwischen dem Beginn der 1870er und 1900 das erste Bürgerliche Gesetzbuch entstand. Es sollte die Rechtsvielfalt in den verschiedenen deutschen Ländern ebenso aufheben wie die Not in großen Teilen der Bevölkerung und legte die Grundlage für das Verständnis von Familie als biologischer Einheit, Wirtschaftsgemeinschaft und von geschlechtlicher Arbeitsteilung wie es bis in das 21. Jahrhundert wirksam ist. 

Entsprechend dieser Forschungsschwerpunkte unterrichte ich in diesem Sommersemester im Studiengang Kultur und Sozialanthropologie ein Seminar zu Erbschaft, eines zu Gemeinschaft und ein weiteres zu Provenienzforschung, die sich aus der Geschichte der Anthropologie und Ethnologie ergibt. Provenienzforschung wird, ganz im Einklang mit groß angelegten, institutionenübergreifenden Ausstellungs-, Dokumentations- und Forschungsvorhaben verschiedener LWL-Kultureinrichtungen in 2022/23 zum Themenfeld (Post)Kolonialismus wegen der Relevanz des Themas und des großen Bedarfs entsprechend ausgebildeter Absolvent:innen regelmäßig in meiner BA- und MA-Lehre eine Rolle spielen.

Mit den Teilnehmer:innen eines Seminars zu Provenienz werde ich Anfang Juli das Überseemuseum in Bremen sowie das Museum am Rothenbaum - Kulturen und Künste der Welt (MARKK) in Hamburg besuchen. An beiden Museen wird verstärkt zur Provenienz der hauseigenen Sammlungen geforscht. Was die Gruppe dort jeweils erfahren und erlebt hat und warum die jeweiligen Ausstellungen einen Besuch wert sind, folgt im Juli an dieser Stelle.

Kategorie: Aus der Uni

Schlagwort: Bettina Bock von Wülfingen