Das Neujahrsgedicht von Adolf Glasbrenner von 1854

10.01.2023 Niklas Regenbrecht

Titelseite Komischer Volkskalender, Hamburg 1854 (Bayerische Staatsbibliothek: https://mdz-nbn-resolving.de/details:bsb10106306).

Am 6. Januar haben wir an dieser Stelle über das gefälschte Neujahrsgebet des Pfarrers von St. Lamberti 1883 berichtet.

Für alle, die nun neugierig auf den Originaltext geworden sind, geben wir diesen in der Fassung von 1854 hier wieder. Diese von Glaßbrenner bearbeitete Fassung ist umfangreicher als seine erste Version von 1848 und enthält alle Verse, die später Eingang in das angebliche „Neujahrsgebet des Pfarrers von St. Lamberti“ gefunden haben. Sie sind hier fett hervorgehoben.

Adolf Glaßbrenner: Neujahrswunsch. Neue Bearbeitung.

 

Du Jahr 1854, das du mit einem Sonntag beginnst und endigst, sei ein Jahr des Lichtes, der Wärme und des Schaffens!

Bringe den Menschen die Krone des Lebens und lasse die Kronen dieses Lebens menschlich sein.

Lasse die Reichen arbeiten und die Arbeitenden reicher werden.

Gieb den Glücklichen mehr Erbarmen und nimm dagegen den Erbärmlichen das Glück.

Setze dem Ueberfluß Grenzen und lasse die Grenzen überflüssig werden.

Verkürze die Prozesse, aber nicht das Recht.

Lasse alle deutschen Staaten in Deutschland aufgehen und nicht Deutschland in allen deutschen Staaten unter.

Laß uns in allem Willen uns einigen, und nicht Einigen allen Willen.

Nimm den Wucherern das Getraide und lasse dagegen das Getraide wuchern.

Lasse uns leichter unser Brod finden und das Brod so schwer wie die Bäcker.

Mache das Bier so stark wie unsern Durst und so nahrhaft wie die Brauereien.

Bringe den Mädchen Ehemänner und nimm dafür den Ehemännern die Mädchen.

Nimm den Ehefrauen ihr letztes Wort und erinnere dagegen die Ehemänner an ihr erstes.

Gieb allem Glauben seine Freiheit und mache die Freiheit zum Glauben Aller.

Gieb den Schwindsüchtigen eine feste Constitution und nimm dagegen unsern Constitutionen die Schwindsucht.

Gieb, daß sich jedes wahre Verdienst als solches ausweisen kann und nicht ausgewiesen wird.

Laß unsern Willen unser Himmelreich sein, aber auch das Himmelreich unsern Willen.

Gieb, daß Jeder bei Wein und Lust seinen Arzt leben läßt, und dieser ihn.

Gieb den Völkern Preßfreiheit und nimm sie dafür den Gewaltigen.

Verwandle unsre jetzigen Helden in Bürger und unsre Bürger in Helden.

Lasse den Krieg nicht unsre Felder ruiniren und den Frieden nicht uns.

Mache aus den stolzen Kammerherren stolze Herren in den Kammern;

nimm uns die einzelnen Freiherren und laß uns dagegen Alle freie Herren werden;

mache den Landmann zum Mann des Landes und lasse alle Gutsherren gute Herren sein.

Gieb, daß wir Alle an Gott glauben, und daß dieser Gott nicht an uns verzweifle.

Gieb den Juristen Fleiß und den Fleiße sein Recht.

Lasse alle Lumpen zu Papier werden, aber nicht uns durch lauter Papier zu Lumpen.

Lasse das Eigenthum nie als Diebstahl gelten, aber auch den Diebstahl nicht als Eigenthum.

Lasse die Leute kein falsches Geld machen, aber auch das Geld keine falschen Leute.

Gieb uns für die frommen Orden ordentliche Fromme.

Lasse die Dichter volksthümlicher werden und das Volk dichter.

Gieb den Regierungen ein noch besseres Deutsch und den Deutschen dafür noch bessere Regierungen.

Nimm den Rentiers die hohen Interessen und schenke ihnen dafür höhere.

Laß unsre kleinen deutschen Flecken gedeihen und blühen, und die größten deutschen Flecken dafür ausgehen.

Nimm uns die Schutzzöllner und beschütze uns dagegen vor den Pharisäern.

Lasse keine Bücher mit Beschlag belegen und sarge dafür die Censur ein.

Lasse die Pfaffen den Weg gehen, den sie uns zeigen, oder den, den wir ihnen zeigen.

Gieb den Schauspielern bessere Rollen und den Rollen bessere Schauspieler.

Mache das schöne Geschlecht stärker und das starke Geschlecht stark.

Schenke unsern Freunden mehr Wahrheit und der Wahrheit mehr Freunde.

Gieb den Gutgesinnten eine gute Gesinnung,

lasse die Wissenschaft Wissen schaffen,

die Kreuzritter unser Kreuz tragen und

die Conservativen etwas Andres erhalten als Geld.

Nimm unsern Großen den Zorn und gieb unserm Zorn mehr Größe.

Schenke den Vereinen mehr Thatkraft und der Thatkraft mehr Vereinigung.

Gieb den Messen bessere Kaufleute und lasse dafür die Kaufleute besser messen.

Lasse uns Maschinen erfinden aber nicht bleiben.

Lasse uns nicht so schlecht werden, wie man von uns spricht, sondern so gut, wie wir uns glauben.

Gieb uns gute Nachtwächter für die Nacht und nimm uns dafür die des Tages.

Gieb uns statt der Mucker: gute Kartoffeln,

statt der Jesuiten: schöne Trauben,

neben den Reichsäpfeln: reiche Aepfel,

neben den Adlern: fette Hühner und Gänse,

statt der goldenen Bienen: lebendige,

statt der verschimmelten Stammbäume: blühende,

und statt der Ketten: Schienen.

Ersetze uns die deutsche Flotte durch flotte Deutsche.

Lasse alle Menschen Mäßigkeitsvereins-Mitglieder werden, und sorge dafür, daß es nicht so viele sein müssen.

Lasse die Weiber nicht so viel Staat machen und die Männer dagegen einen größern.

Lasse die Höfe mehr Rath annehmen und weniger Räthe,

mehr Lust verbreiten und weniger Lüste,

und mehr Geschichte machen und weniger Geschichten.

Lasse die Hüte von besserm Filz machen und behüte uns besser vor Filzen.

Laß uns nicht unterdrücken durch Steuern und steure dagegen den Unterdrückern.

Wenn es nicht möglich ist, die Zöpfe von den Philistern abzuschneiden, so schneide die Philister von den Zöpfen ab.

Lasse nicht so Viele nach der neuen Welt auswandern, sondern eine neue Welt zu uns kommen.

Lasse weniger Reden halten und mehr Wort.

Gieb, daß das Versprechen kein Versprechen bleibe und errette uns von den Rettern.

Erlasse uns die bösen Erlasse und gieb, daß alle landesherrlichen Verordnungen herrliche für das Land sind.

Bessere solche Beamte, die wohl feil sind, aber nicht wohlfeil, und wohl thätig, aber nicht wohlthätig.

Gieb uns für die diplomatischen Ultimatums das Ultimatum der Diplomatie.

Laß uns niemals auf unsern Lorbeeren ruhen, sondern die Lorbeeren auf uns.

Gieb den Weisen Macht und den Mächtigen Weisheit.

Schenke den Fröhlichen Wein und den Weinenden Fröhlichkeit.

Schenke uns Ablaß unsrer kleinen Sünden und einige Gelegenheit zu neuen.

Und schenke uns endlich lange Weile ohne Langeweile,

ewigen Durst und augenblickliches Löschen,

junge Frauen und abgelagerte Cigarren,

treue Genossen und wechselnden Genuß,

lustige Gesellen und gesellige Lust,

geduldige Gläubiger und ungeduldige Vertreter,

billige Feinde und theure Freunde,

ansprechende Cousinen und anspruchslose Verwandte,

sanfte Ehefrauen und schäumenden Champagner,

heitere Tage und ruhige Nächte,

ruhige Tage und heitere Nächte,

und ungebundene Laune und gefesselte Herzen.

Sorge dafür, daß wir Alle in den Himmel kommen, aber noch lange nicht!

 

 

Quelle:

Adolf Brennglas (Pseudonym für: Adolf Glaßbrenner): Komischer Volkskalender. Hamburg 1854, S. 122-126. (Digitalisat bei der Bayerischen Staatsbibliothek)

Kategorie: Aus anderen Sammlungen

Schlagwort: Schriftgut