Defloration am Kesselhaken. Alte Rechtsbräuche zur Besitzergreifung

06.02.2024 Marcel Brüntrup

Andreas Eiynck

„Der Akt der Besitzergreifung ist eine Art Defloration, eine Steigerung des Gefühls, über etwas die Herrschaft zu haben“ (Erich Fromm: Haben oder Sein. 1976)

Am 27. August 1627 setzte sich Edo Bispinck, Bürger zu Steinfurt, als nächster Verwandter in den Besitz des Hauses seiner verstorbenen Tante Kunne Bispinck, Witwe des Gerdt von Rehnes. Hierüber ließ er ein notarielles Protokoll aufsetzen. Demnach begaben sich Bispinck und der Notar zunächst in die Stube beim Herd, setzten sich dort nieder und verkündeten dem Mieter des Hauses, Bernd Sturmann, den Wechsel des Hauseigentümers. Daraufhin verließ Bispinck die Stube und ging zum Herd, setzte sich dort auf einen Stuhl und nahm den Kesselhaken in die Hand. Anschließend ging er in die Kammer beim Herd und forderte den Schlüssel zum Garten. Hieran schloss sich eine „Prozession“ durch Haus und Garten an.

Ort der Besitzergreifung war in der Regel der Kesselhaken am Herdfeuer (Foto: Emslandmuseum Lingen, Bildarchiv).

Das Ergreifen des Kesselhakens als Zeichen der Verfügungshoheit über die symbolische Mitte des Hauses, das Herdfeuer, wird in vielen Protokollen zur Besitzergreifung in der frühen Neuzeit erwähnt. Umrahmt wurde es häufig durch weitere symbolische Handlungen. So verlief die Besitzergreifung eines Hauses in der Kleinstadt Ramsdorf bei Borken im Jahre 1663 in insgesamt acht Schritten. Sie begann mit (1) dem Öffnen und Schließen der Haustür, (2) dem Auf- und Niederlassen des Kesselhakens sowie (3) dem Auslöschen und Wiederentzünden des Herdfeuers. Dann folgten das in die Hand nehmen (4) eines Holzsplitters aus einem Pfosten des Hauses sowie (5) eines Stückes Lehm aus der Diele. Im Garten steckte der neue Besitzer (6) einen Stock in die Erde, grub (7) einen Kohlstrunk aus und (8) brach einen Zweig von einem Baum ab.

Das Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte definiert eine solche symbolische Besitzergreifung unter dem Begriff Besitzeinweisung wie folgt: „Die Besitzeinweisung brachte den Besitz- und Grunderwerb des Übernehmers zum Ausdruck. Sie war ein solemner Apprehensionsakt [= förmlicher Ergreifungsvorgang], der rechtsförmlich vollzogen wurde. Der Erwerber nahm aus der Hand des Veräußerers einen zur handhaften Übergabe tauglichen Grundstücksteil (bei ländlichen Grundstücken: Scholle, Torf, Zweig, Rasenstück) entgegen [… ]. Den Besitz eines Hauses konnte der Übernehmer durch förmliches Betreten der Türschwelle oder durch Entgegennahme eines entsprechenden Traditionssymbols (Türpfosten) erwerben.“

Die verschiedenen symbolischen Handlungen einer förmlichen Besitzergreifung sind, in unterschiedlichen Kombinationen, in zahlreichen Notariatsprotokollen aufgeführt, und zwar in Stadt (Münster 1637) und Land (Hollich 1695), bei Adelssitzen (Schwakenburg 1716) und Pfarrhäusern (Emsbüren 1684), ja sogar bei der Übernahme einer Landesherrschaft in nördlichen Westfalen (Grafschaft Steinfurt 1632).

Die sehr aufwendige Besitzergreifung der Grafschaft Steinfurt ist für das Jahr 1632 protokolliert, als Graf Wilhelm Heinrich von Bentheim, Erbe der Grafschaft Steinfurt, ohne Hinterlassung von Kindern starb. Sofort erhoben zwei seiner Neffen aus dem Hause Bentheim-Tecklenburg Anspruch auf die Herrschaft Steinfurt, obwohl dies dem Inhalt eines Erbvertrages aus dem Jahre 1487 eindeutig widersprach. Laut diesem Vertrag war nämlich ihr Onkel Arnold Jobst von Bentheim zu Bentheim als rechtmäßiger Erbe in Steinfurt anzusehen. Dies hielt die jungen Grafensöhne aus Tecklenburg jedoch nicht davon ab, eine förmliche Besitzergreifung in Steinfurt durchzuführen und notariell protokollieren zu lassen.

Am 6. Oktober 1632 machte sich in Tecklenburg eine Kommission, bestehend aus dem Drosten, einem Burgmann, einem Hofrat und mehreren Juristen, auf den Weg, um die Steinfurter Güter einzeln und der Reihe nach förmlich in Besitz zu nehmen. Die rechtlichen Handlungen begannen im Kirchspiel Borghorst auf dem Steinfurter Bauernhof Schulze Marquarding. Dort wurde den Hausbewohnern zunächst der Todesfall des Steinfurter Grafen angezeigt und dann der Erbanspruch des Hauses Bentheim-Tecklenburg verkündet. In dessen Namen wurde sodann das Feuer am Herd gelöscht und wieder angezündet, der Kesselhaken ergriffen und ebenso die Schließvorrichtung am Hoftor. Dann wurde ein Zweig von einem Baum abgebrochen, ein Erdkluten aufgenommen und ein Zaunstaken aus der Garteneinfriedung herausgebrochen. Gleiches wiederholte die Kommission auf sämtlichen Bauernhöfen und in allen Bauernhäusern der Herrschaft Steinfurt und ließ dies Hof für Hof zu Protokoll nehmen.

Besondere Grundstücke des gräflichen Hauses ergriff man durch das Öffnen und Schließen des Schlagbaums und der daran angebrachten Schlösser, das Abbrechen eines Strauches oder eines jungen Baumes sowie das Ausgraben eines Erdklutens. Ähnlich verfuhr die Kommission in der gräflichen Ziegelei, wo die Herren zusätzlich einen frisch gebrannten Backstein und eine Dachpfanne zerbrachen. An der gräflichen Kornmühle wurde die Tür geöffnet und geschlossen sowie das Stauwehr auf- und wieder zugezogen.

Das Schloss Steinfurt nahmen die Kommissäre auf die geschilderte Weise ebenfalls in Besitz und am Ende auch noch den Steinfurter Witwensitz auf dem Schloss in der kleinen Herrschaft Gronau, dort unter „Ergreifung des Haels aufm Herde, Außhauung eines Stücklein Holtzes auß des Hauses Post und Delen, eines Zweiges vom Baum und Erdklutens aus dem Hof und Lande.“ Die aufwendige Prozedur erwies sich im Übrigen als juristisch erfolglos, denn auch eine noch so förmliche Besitzergreifung blieb gegenüber dem Erbvertrag von 1487 am Ende rechtlich wirkungslos.

Der Hof Wacker in der Burgsteinfurter Bauerschaft Hollich wurde 1695 vom Notar Weddige förmlich in Besitz genommen (Foto: Emslandmuseum Lingen, Bildarchiv).

Vor allem im nördlichen Westfalen überliefert ist als Rechtsbrauch bei der Besitzübertragung von Bauerngütern das Platznehmen des aufziehenden Bauern und seiner Ehefrau auf zwei Stühlen am Herd, wo dann die weiteren Handlungen wie das Löschen und Wiederanzünden des Herdfeuers, das Aufschürzen des Kesselhakens und die Übergabe symbolischer Gegenstände vollzogen wurden (Stift Börstel, 17. Jh.; Grafschaft Bentheim, 1715 und 1744).

Ähnliche Handlungen wurden im 18. und 19. Jahrhundert häufig als Bestandteile des Hochzeitsbrauchs und bei der Hofübergabe im Zuge des Generationenwechsels vollzogen. Dabei war aber in der Regel kein Notar zugegen und es wurde auch kein Protokoll geführt, weil die Rechtslage geklärt und unstrittig war. Die alten Rechtsbräuche bei der Besitzergreifung hatten sich hier zu Hochzeitsbräuchen gewandelt.

Heinrich Voort hat bei einer Zusammenstellung von Rechtsbräuchen zur Besitzübergabe von Bauerngütern in der Grafschaft Bentheim festgestellt, dass symbolische Handlungen der Besitzergreifung vor allem dann durchgeführt und protokolliert wurden, wenn die Rechtslage aufgrund unterschiedlicher Besitzansprüche erst jüngst geklärt oder sogar noch strittig war. Dies trifft auch auf die Mehrzahl der oben aufgeführten Fälle zu. Die Besitzergreifung vor Ort unter Vollzug symbolischer Handlungen diente also der rechtlichen Bekräftigung eines Gerichtsentscheides oder galt als Mittel, einer solchen Entscheidung zuvorzukommen, um auf diese Weise die eigene Rechtsposition durch das Schaffen von Fakten zu untermauern.

Quellen und Literatur:

Sebastian Schröder: Hüte, Handschläge, Herdfeuer. Frühneuzeitliche Rituale der Besitzübertragung im östlichen Westfalen. In: Westfälische Zeitschrift 169, 2019, S. 257-293.

Heinrich Voort: Symbolik im Rechtsleben – Zur Besitznahme von unbeweglichen Gütern in der Grafschaft Bentheim. In: Bentheimer Jahrbuch 1997, S. 109-118.

Wolfgang Niehoff: Herdfeuer in Sitte und Brauchtum. In: Friedrich Wilhelm Hunsche und Friedrich Schmidt (Hrsg.): Beiträge zur Volkskunde des Tecklenburger Landes. Tecklenburg 1974, S. 166-168.

Renate Oldermann-Meier: Ein Holzspan inmitten einer historischen Akte. In: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 63, 1991, 327-335.

Handwörterbuch der Deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 1, Berlin 1971, Spalte 593-594.

Zur Besitzergreifung der Grafschaft Steinfurt 1632: NRW-Landesarchiv, Abteilung Münster, Fürstbistum Münster, Landesarchiv, Akten 62 I, Nr. 60.

Auf die Anführung der weiteren Quellen wird an dieser Stelle verzichtet – ein entsprechender Quellennachweis wird im Archiv für Alltagskultur hinterlegt und kann dort eingesehen werden.