Kein Herz und eine Seele: Grenzkonflikte zwischen Preußen und Osnabrück

09.02.2024 Marcel Brüntrup

Sebastian Schröder

Im Lübbecker Land stießen gleich mehrere Grenzen aufeinander. Einerseits verlief hier die Landscheide zwischen den preußischen Territorien Ravensberg und Minden. Da die Grafschaft und das Fürstentum einem gemeinsamen Landesherrn unterstanden, waren die Auswirkungen allerdings im 18. Jahrhundert nicht mehr so gravierend. Ganz anders hingegen verhielt es sich mit der Grenze zum Fürstbistum Osnabrück. Zwistigkeiten und Kontroversen traten hier häufig auf und beschäftigten unter anderem auch die Mindener Kriegs- und Domänenkammer.

Grenze zwischen dem Fürstbistum Osnabrück und dem preußischen Fürstentum Minden bei Levern, 1783 (LAV NRW W, W 051, Nr. 19585).

Etwa meldeten sich im Februar 1742 die Vorsteher von Levern und Sundern („Leversundern“) beim Amtmann des mindischen Amtes Reineberg. Dieser hatte den Vorstehern zuvor Schilder ausgehändigt, die an der osnabrückischen Grenze an Stangen aufgehängt werden sollten. Sie dienten zur Markierung der territorialen Hoheitsbereiche. Die Vorsteher hätten zuvor die „ältesten Leuthe“ befragt, wo die Grenze verlaufe. Obschon sie äußerst „vorsichtig gewesen“ seien, um bloß nicht Osnabrücker Gebiet zu verletzen, „wären die Unterthanen aus dem [osnabrückischen] Ambt Wittlage mit starker Manschafft hergekommen und hätten 3 Stangen mit sambt den Schildern aufgerißen“. Als die Mindener Kriegs- und Domänenräte von dem Vorfall Kenntnis erhielten, äußerten sie sich entrüstet über das Vorgehen der Osnabrücker. Die Nachbarn hätten widerrechtlich die Territorialhoheit des preußischen Landesherrn verletzt. Offen drohte man mit entsprechender Vergeltung. Zudem informierte die Kriegs- und Domänenkammer die ebenfalls in Minden ansässige Regierung, die auch für Grenzangelegenheiten zuständig war.

Für die preußische Seite schien die Sache eindeutig zu sein: Dass die Untertanen aus dem osnabrückischen Amt Wittlage eine strafbare Handlung begangen hätten, könne hinlänglich bewiesen werden. Deshalb sandte der Reineberger Amtmann eine Protestnote an seinen Wittlager Kollegen. Erstens sollten die Grenzschilder umgehend wieder an Ort und Stelle gebracht werden, zweitens habe man die „Freveler“ gehörig zu bestrafen. Die Reaktion des Amtes Wittlage ließ nicht lange auf sich warten. Der osnabrückische Beamte Kröger wies die Vorwürfe zurück. Entgegen den mindischen Anschuldigungen verlaufe die Grenze nämlich ganz anders, alte Verträge bestätigten das. Infolgedessen hätten die Wittlager Eingesessenen rechtmäßig gehandelt. Tatsächlich müssten die Bauern aus Levern und Sundern bestraft werden, da sie die „Oßnabr[ückische] Landts Hoheit undt Gerechtigkeit“ infrage gestellt hätten. Der Wittlager Amtmann „reprotestierte“ daher gegen die seines Erachtens „ohnerhebliche Protestation“ des Amtes Reineberg.

Fürs erste ließ sich der Disput auf Amtsebene nicht lösen. Die Mindener Regierung als zuständige Landesbehörde sollte mit den Geheimen Räten in Osnabrück diskutieren – der zunächst harmlos erscheinende Konflikt um vier Grenzschilder entwickelte sich also zu einer wahren Staatsaffäre. Unterdessen schwelten die alltäglichen Animositäten weiter. Beispielsweise protokollierte der Reineberger Amtmann im August 1744, dass von den Eingesessenen aus Levern ein osnabrückischer Untertan namens Borgmann gefangengenommen worden sei. Der Delinquent habe widerrechtlich Plaggen und Erdschollen im Fürstentum Minden gestochen. Den Osnabrückern gefiel dieser Vorfall ganz und gar nicht. Sie stahlen deswegen des Nachts einen Esel, der vor dem Reineberger Amtshaus angebunden gewesen war. Außerdem entwendeten sie zuvor gepfändete Pferde, die sich auf den Ellerburger Weiden befanden. Und die Geheimen Räte in Osnabrück protestierten mit scharfen Worten dagegen, dass sich das Amt Reineberg anmaße, einen Eingesessenen des Fürstbistums Osnabrück zu strafen. Zwar erkenne man an, dass Borgmann die gegenseitigen Vereinbarungen gebrochen habe. Dafür müsse er sich verantworten – aber eben vor Osnabrücker Institutionen. Überdies beschwerten sich die osnabrückischen Beamten über die Brutalität, mit der die Bauern aus Levern gegen Borgmann vorgegangen seien. Mit „Schützen auch Forchen“ hätten sie ihn „geschlagen, daß derselbe zu Levern für tod gelegen und mit dem heil[igen] Abendmahl bedienet werden müßen“ – glücklicherweise habe Borgmann trotz aller Befürchtungen überlebt.

Nicht nur Landesgrenzen waren strittig. Auch Markengrenzen konnten Anlass zu Kontroversen bieten, wie hier im Bereich Sundern bei Levern (heute Stemwede), 1750 (LAV NRW W, W 051, Nr. 19626).

Wieder einmal erwuchs aus einer zunächst kaum beachtenswert erscheinenden Angelegenheit eine handfeste Krise zwischen den beiden benachbarten Staaten. Die Mindener Landesbehörden wollten die Beschuldigungen aus Osnabrück nämlich nicht auf sich sitzen lassen. Sei Borgmann wirklich derart brutal überwältigt worden? Der zurate gezogene Chirurg Lederer aus Lübbecke kam in seinem Gutachten zu einem anderen Urteil: Die „angegebene gefährl[iche] Verwundung“ habe er „keinesweges bey ihme gefunden“. Die osnabrückische Klage erweise sich demzufolge als „gantz ungegründet“.

Es zeigt sich also, dass alltägliche Scharmützel an der Grenze häufig hohe Wellen schlugen. Während die Vertreter der Landesherren um die Einhaltung hoheitlicher Rechte fochten, standen bei der lokalen Bevölkerung andere Aspekte im Fokus. Ihnen ging es meistens um das Bestreiten ihres Lebensunterhalts – Borgmann benötigte die Plaggen entweder zum Heizen oder als Einstreu für sein Vieh. Insofern dachte er wahrscheinlich nicht an die ausufernden Konsequenzen, die solche Grenzverletzungen nach sich zogen. Die überlieferten Protokolle belegen des Weiteren die verschiedenen Strategien und Wege, wie die Menschen damals mit Konflikten umgingen. Die lokale Bevölkerung und der Amtmann vor Ort waren teils sogar bereit, den Streit gewaltsam auszutragen. Die jeweiligen Landesbehörden beschritten zwar eher den Verhandlungsweg, doch stellten sie sich letztlich immer auf die Seite ihrer Untertanen. Dadurch signalisierten sie, welch hohen Stellenwert der Schutz der Territorialgrenzen für sie einnahm. Insofern verwundert es nicht, dass derartige Auseinandersetzungen bis zum Ende des 18. Jahrhunderts an der Tagesordnung blieben.

Quellen:

Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abteilung Westfalen, D 607/Kriegs- und Domänenkammer Minden, Nr. 3756: Grenzstreitigkeiten zwischen dem Amte Reineberg und dem osnabrückischen Amte Wittlage – Band 1, 1742.

Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abteilung Westfalen, D 607/Kriegs- und Domänenkammer Minden, Nr. 3757: Grenzstreitigkeiten zwischen dem Amte Reineberg und dem osnabrückischen Amte Wittlage – Band 2, 1744.

Die bisherigen Teile der Serie zur Kriegs- und Domänenkammer Minden:

Ein Dickicht voller Alltagskultur: Die preußischen Kriegs- und Domänenkammern in Westfalen im 18. Jahrhundert

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