Vormoderne Verkehrssünder: Reiter, Fuhrleute und Schlittenfahrer auf Mindener Straßen am Ende des 18. Jahrhunderts

28.11.2023 Marcel Brüntrup

Darstellung der Chaussee von Bielefeld nach Minden und der Brücke über die Werre bei Rehme (heute Bad Oeynhausen), 18. Jahrhundert (LAV NRW W, W 051/Karten A (Allgemein), Nr. 19744).

Sebastian Schröder

Im Straßenverkehr heißt es: Obacht! Doch nicht erst seitdem Autos und Kraftwagen zum alltäglichen Anblick geworden sind, birgt die Begegnung von Verkehrsteilnehmer:innen Gefahren. Ein Blick in die Akten der Mindener Kriegs- und Domänenkammer zeigt, vor welchen Herausforderungen diesbezüglich schon die Menschen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts standen und mit welchen Mitteln die landesherrliche Obrigkeit den Problemen begegnen wollte.

Im Frühjahr 1788 ereignete sich in Minden ein Unglücksfall: In abendlicher Dunkelheit überfuhr ein Kutscher einen Passanten. Die Kriegs- und Domänenräte in Minden urteilten, der Fahrer des Gespanns sei „unvorsichtig“ gewesen. Umgehend verboten sie daraufhin „das schnelle Fahren“ und ordneten des Weiteren an, dass an den Kutschen künftig „Leuchtlaternen“ anzubringen seien. Aber nicht nur im Frühjahr konnte es zu Zusammenstößen kommen, wie die Kriegs- und Domänenkammer im Februar 1788 erläuterte. Kürzlich sei es nämlich nachts auf einem schneebedeckten Weg zu einem Unfall gekommen, in den ein von Pferden gezogener Schlitten involviert war. Ab sofort untersagten die Beamten daher das Schlittenfahren nach 18 Uhr. Wer diesem Gesetz zuwiderhandele, müsse eine Strafe von 20 Reichstalern entrichten, drohten die Mindener Räte.

Damals existierten übrigens nicht nur Pferdeschlitten. Sobald Schnee lag, freuten sich die Kinder, wenn sie die „abhängigen Plätze“ mit einem Schlitten heruntersausen konnten. Dieses Vergnügen gefiel den Beamten der Kriegs- und Domänenkammer allerdings ganz und gar nicht, da es „zu Unglücksfällen Anlaß gebe“. Entsprechend ermahnten sie die Eltern im Februar 1792, „auf ihre Kinder die gehörige Aufsicht zu halten.“

Die genannten Vorschriften dienten dazu, für „Ordnung“ auf den Straßen zu sorgen. Aber hielten sich die Untertanen an die Gesetze? Dazu liest man in den Akten der Kriegs- und Domänenkammer vom Juli 1798, dass sich in der Mindener Videbullenstraße „der traurige Vorfall ereignet, daß der Knecht des Controlleurs Müller daselbst mit dem Pferde gejaget, und den Sohn des Bürgers Maschmeier dadurch umgeritten, und so verletzt hat, daß derselbe […] in großer Lebens Gefahr ist.“ Zudem wussten Augenzeugen zu berichten, dass Fuhrleute in der Bäckerstraße ein mit Tannendielen beladenes Pferdegespann ohne Aufsicht abgestellt hätten, um „ein Brandteweins Haus“ zu besuchen. Während die Männer zechten, seien die vier Pferde entlaufen. Glücklicherweise kam niemand zu Schaden. Trotzdem war die Bilanz eindeutig: Nahezu täglich ließen sich „Unordnungen“ beobachten.

Verlauf der Chaussee zwischen der schaumburg-lippischen und hessischen Grenze in der Bauerschaft Kleinenbremen. Dabei handelt es sich um einen Ortsteil der heutigen Stadt Porta Westfalica, Zeichnung von Rittelmeier, 1803 (LAV NRW W, W 051/Karten A (Allgemein), Nr. 20161).

Ein Jahr später musste der Mindener Magistrat abermals bei der Kriegs- und Domänenkammer Bericht erstatten. Hatte sich die Lage auf den Gassen der Stadt verbessert? Die städtische Obrigkeit verneinte diese Frage. Unter anderem sei „schon mehrmalen Streit und Zanck darüber entstanden, wenn ein folgender Wagen dem vorhergehenden vorbeijagt, wodurch die Pferde vor den andern Wagen leicht wild gemacht werden können.“ Vor allem auf den etwas erhöht liegenden und mit Gräben an beiden Seiten versehenen Chausseen könne ein derart ungebührliches Verhalten schnell zu schweren Unfällen führen. Deshalb schlug der Magistrat vor, nicht nur die Gesetze zu verschärfen, sondern auch an den Chausseen Tafeln mit entsprechenden Hinweisen aufzustellen. Wer einen vorausfahrenden Wagen überholen wolle, solle dem Kutscher zunächst zurufen, schneller zu fahren. Sofern der Fuhrmann dieser Aufforderung nicht nachkomme, habe er am rechten Fahrbahnrand anzuhalten, um ein gefahrloses Passieren mit angemessener Geschwindigkeit zu ermöglichen. Die Kriegs- und Domänenräte zeigten sich von diesen Vorschlägen sehr angetan und wiesen die Wegewärter umgehend an, diese Grundsätze fortan zu kontrollieren.

„Zeichnung von dem Chausse Geldt Empfangs Hause bey Kleinenbremen“, Zeichnung des Landbaumeisters Funck, 1803 (LAV NRW W, W 051/Karten A (Allgemein), Nr. 20256).

Der neuerliche Erlass der Kammer sah außerdem genau geregelte Strafen bei Zuwiderhandlungen vor. Insbesondere Knechte und Bedienstete von Personen und Institutionen, die nicht der städtischen Gerichtsbarkeit unterstanden, bereiteten dem Mindener Magistrat jedoch häufig Probleme. Diese sogenannten „Eximierten“ argumentierten, dass für sie eine andere Gesetzgebung gelte, obschon das Allgemeine Landrecht von 1794 eigentlich diesem Personenkreis ebenfalls das zu schnelle Reiten oder Fahren auf den Gassen untersagt hatte. Etwa wurde der aus dem Lippischen stammende Kutscher des Doktors Harmes, Friedrich Asch, beschuldigt, durch „das unvorsichtige Fahren“ auf dem Marktplatz den Generalleutnant von Borstel ins „Straucheln gebracht“ zu haben. Überdies soll von Borstel der Stock aus der Hand gerissen und der Hut vom Kopf gefallen sein. Die Kriegs- und Domänenräte beriefen sich auf das Allgemeine Landrecht und entschieden, dass Asch bestraft werden dürfe – ungeachtet aller Einsprüche.

Die Akten aus dem Bestand der Mindener Kriegs- und Domänenkammer zeigen: Wer von A nach B reisen wollte, musste sich bereits im 18. Jahrhundert an Regeln halten. Verkehrsordnungen sind keineswegs eine moderne Erfindung, sondern galten schon, als noch keine motorisierten Gefährte existierten. Auch ohne hochtourige PKW herrschte mitunter ein reges Treiben auf den Chausseen, Straßen und Gassen. Kurzum: Schon die Vormoderne kannte Verkehrsrowdys, deren Verhalten in den Schriftzeugnissen einer preußischen Provinzialbehörde die Zeiten überdauert hat.

Quelle: Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abteilung Westfalen, D 607/Kriegs- und Domänenkammer Minden, Nr. 357: Verbot des Schlittenfahrens nach 6 Uhr abends sowie des schnellen Reitens und Fahrens auf den Straßen, 1788–1800.

Die bisherigen Teile der Serie zur Kriegs- und Domänenkammer Minden:

Ein Dickicht voller Alltagskultur: Die preußischen Kriegs- und Domänenkammern in Westfalen im 18. Jahrhundert

Die Preußen wollen umsatteln: Zugochsen statt Pferde lautete die Devise

Erfindergeist in Minden und Ravensberg

Die Preußische Kriegs- und Domänenkammer und der Kampf gegen Viehseuchen

Bergbau in Bierde? Die Mindener Kriegs- und Domänenkammer und die Steinkohle

Die Glocken schweigen. Oder: „Gewitterableiter“ in preußischen Kammerakten

„Diebereyen“, „Zügellosigkeiten“ und „schwache Nerven“: Kriegs- und Domänenräte auf Reisen

Die Ärmel hochkrempeln: Die Kriegs- und Domänenkammer in Minden und die Impfung gegen die Pocken

Schädlich oder unentbehrlich? Die Mindener Kriegs- und Domänenkammer und die Debatte um das Laubsammeln in westfälischen Wäldern

Die Sorgen der Müller. Zur Geschichte der Hollweder Mühle im 18. Jahrhundert