Ist das Pergament oder kann das weg? Makulaturen als besondere Zeitzeugnisse

19.04.2022 Niklas Regenbrecht

Pergamenteinband der Akte Stadtarchiv Lübbecke, A 119.

Sebastian Schröder

Wer im Findbuch des Stadtarchivs Lübbecke stöbert und sich für „Urfehden“ interessiert, horcht beim Titel der Akte mit der Signatur A 119 auf. Denn die hier versammelten Schriftstücke versprechen eine Übersicht über diejenigen Fälle, in denen ein Lübbecker Bürger im Zuge einer Auseinandersetzung im 17. Jahrhundert seinem Widersacher Frieden versprach. Streiten und vertragen – diese beiden Themenfelder verbergen sich also zwischen den Aktendeckeln. Neben dem eigentlichen Inhalt stellt sich aber auch der Einband des Dossiers als äußerst ergiebige Quelle heraus. Was ist das Besondere an diesem Bogen Pergament, Beschreibstoff aus Tierhaut, der mehrere Blätter Papier zusammenhält?

Neben lateinischen Buchstaben, die als gotische Minuskel zu bestimmen und somit dem Spätmittelalter zuzuschreiben sind, lassen sich ein mit roten Strichen erstelltes Notensystem und diverse Hervorhebungen bestimmter Passagen ausmachen. Obwohl die Ränder des Pergaments durch Beschnitt auf die Größe des Aktenbandes angepasst und verklebt worden sind, kann man den teils verlorengegangenen Text trotzdem entschlüsseln. Es handelt sich um Präfationen, also um liturgische Elemente der heiligen Messe. Die vorliegenden Fragmente beziehen sich auf die Feste Christi Himmelfahrt (die Ascensionis) und Pfingsten (Pentecosta). Letztgenanntes Hochfest ist sogar auf dem Aktendeckel klar auszumachen. In roten Lettern heißt es: „Penthecosten Nota sole[m]nis“ (feierliche Anmerkungen zu Pfingsten).

Es spricht also viel dafür, dass der als Einband überlieferte Pergamentbogen ursprünglich Teil eines (katholischen) Messbuches oder einer Notenschrift für den Organisten gewesen ist. Seit dem Ende des 13. Jahrhunderts beheimatete die westfälische Kleinstadt Lübbecke das Andreasstift, eine Institution für männliche Kleriker (Kanoniker). Möglicherweise nutzten die Stiftsherren derartige Messbücher während ihrer Gottesdienste. Stift und Stadt blieben im Verlauf des 16. Jahrhunderts allerdings vom protestantischen Bekenntnis nicht unberührt. Luthers Lehren verbreiteten sich allmählich auch im äußersten Norden Westfalens – dort, wo offiziell mit dem Mindener Bischof ein altgläubiger Landesherr das Sagen hatte. Der Protestantismus schuf neue Formen liturgischen Handelns, in den Kirchenräumen erklangen neue Lieder. Die vormaligen, nunmehr überkommenen liturgischen Bücher fanden kaum noch Beachtung. Anstatt jedoch die wertvollen, farbig verzierten Pergamentstücke gänzlich zu vernichten, verwendete man dieses Material wieder. Die Zeitgenossen, die Sekretäre und Kanzleibediensteten von Stadt und Stift „recycelten“ die nicht mehr in Gebrauch befindlichen Folianten sozusagen. Das strapazierfähige und besonders haltbare Pergament nutzten die Schreiber zum Beispiel, um papierene Blätter einzubinden oder Aktendeckel herzustellen.

Auf diese Weise blieben einige Fragmente mittelalterlicher Frömmigkeit auch in nachreformatorischer Zeit erhalten. Diese Überbleibsel werden als „Makulatur“ bezeichnet. Das Wort stammt aus dem Lateinischen und bedeutet „beflecktes Ding“, also bedeutungslos oder wertlos gewordenes Pergament oder Papier. Für die Historikerzunft erweisen sich diese Zeugnisse gleich in mehrfacher Hinsicht als Glücksfall. Einerseits zeugen die Hinterlassenschaften davon, dass ein neues christliches Bekenntnis mit veränderten liturgischen Formen eingeführt worden ist. Die Zeitgenossen maßen den traditionellen Liedern und Texten nicht mehr ihre frühere Bedeutung bei. Andererseits warfen sie die Bücher und Blätter, die einstige Glaubenssätze und liturgische Formen festhielten, nicht achtlos fort. Im Gegenteil hatte das Material – meistens Pergament – einen derart hohen materiellen Wert, dass man es wiederverwendete. Insofern zeugen Makulaturen auch vom historischen Umgang mit dem vermeintlich Unbrauchbaren. Die mehrfach genutzten Pergamentstücke vereinen Altes und Neues; als sie ihren neuen Gebrauchskontext erhielten, stammten sie aus einer längst vergangen geglaubten Epoche, wiesen jedoch gleichzeitig weit darüber hinaus. Ausgerechnet diese Objekte, die keine Zukunft mehr zu haben schienen, sollten nun andere Dokumente schützen und somit der Nachwelt bewahren.

 

Quellen:

Stadtarchiv Lübbecke, A 119: Acta über Urpheden und Markensachen, 1606–1688.

 

Literatur:

Hanss Peter Neuheuser/Wolfgang Schmitz (Hrsg.), Fragment und Makulatur. Überlieferungsstörungen und Forschungsbedarf bei Kulturgut in Archiven und Bibliotheken (Buchwissenschaftliche Beiträge, Bd. 91), Wiesbaden 2015.

Maria Spahn, Das Kollegiatstift St. Andreas zu Lübbecke. Ein Beitrag zur Stadtgeschichte (Mindener Beiträge, Bd. 17), Minden 1980.