Spökenkieker: Die Westfalen und das Zweite Gesicht

23.11.2021 Niklas Regenbrecht

Der Spökenkieker sieht die brennende Stadt. Holzschnitt von Heinrich Everz (1926). Original im Emslandmuseum Lingen.

Andreas Eiynck

Sie konnten Sterbefälle und Leichenzüge vorhersagen. Brände und Unglückfälle sahen sie im Voraus, aber auch den Bau von Eisenbahnen und Kanälen. Kriege und andere Katastrophen erschienen vor ihren Augen. Und was sie vorhergesehen hatten, das musste unweigerlich eintreten. Die Rede ist von den Spökenkiekern, den Sehern, denen Ereignisse aus der Zukunft als Bilder vor die Augen traten. Daher auch der Name „Vorgesicht“ für dieses Phänomen.

Was viele Menschen in Norddeutschland in früheren Zeiten für bare Münze nahmen, wurde zunächst kriminalistisch und später auch wissenschaftlich untersucht. Von Psychologen ebenso wie von Kulturwissenschaftlern. Doch letztlich ist ungeklärt, warum viele der dokumentierten Vorgesichte später tatsächlich eintraten.

Der Spökenkieker sieht den Stadtbrand von Ahaus 1863 voraus. Grafik von 1937. Original im Emslandmuseum Lingen.

Zu einem nüchternen Urteil kam der Nestor der Westfälischen Volkskunde, Prof. Franz Jostes, 1904 in seinem „Westfälischen Trachtenbuch“: „Tatsache ist, dass alle diese Leute Träumer sind; nach keiner Speise aber träumt man mehr als nach Buchweizenkost (wohl wegen des Ölgehaltes). Ein neunzigjähriger Greis sagte mir, er träume jede Nacht und habe das immer getan – er aß eben jeden Abend Buchweizenpfannkuchen!“

Umschlaggrafik für das Buch von Karl Schmeing von 1937. Original im Emslandmuseum Lingen.

Eine authentische Schilderung des „Zweiten Gesichtes“ stammt aus der Feder des französischen Emigrantenpriesters Abbé Baston (1741-1825), den es nach der Französischen Revolution in die münsterländische Kleinstadt Coesfeld verschlagen hatte, wo er sich bis 1803 aufhielt. Er kehrte dann nach Frankreich zurück, besuchte aber zu Zeiten des Französischen Kaiserreiches unter Napoleon noch einmal Westfalen. Stets mit einer Prise Humor und mitunter auch mit bissigem Spott beschreibt Baston in seinen Lebenserinnerungen die allgemeinen Zustände und seine persönlichen Erlebnisse im Münsterland der Zeit um 1800. Und dazu gehörte natürlich auch seine Begegnung mit dem „Zweiten Gesicht“.

Eine hohe Meinung von solchen Vorgesichten hatte der gebildete Theologe offenbar nicht. Die Spökenkieker nennt er in Anlehnung an die deutsche Bezeichnung „Seher“ im französischen Orginaltext „voyants“, deutet sie aber eher als „visionnaires“ (Menschen mit Visionen). Baston bekennt, dass er das Phänomen selber nicht beurteilen könne und beschränkt sich daher auf eine Beschreibung:

„In Coesfeld also und an anderen Orten gibt es Leute, die sich einbilden, ‚sie sähen zukünftige Ereignisse, als wenn sie sich zur jetzigen Stunde unter ihren Augen ereigneten‘. Der Seher in meiner kleinen Stadt hütete von Standes wegen alle Schweine des Städtchens. Am frühen Morgen zog er mit ihnen los und führte sie weit weg auf die Weide. Müßig wie unsere Hirten auch, durchlief er die Ebenen und Hügel der Umgebung an der Spitze seiner Herde, und dabei begegneten ihm, wie er sagte, auf dem Wege zukünftige Ereignisse. Wie er erzählte, war es weder eine Offenbarung noch eine Erleuchtung, sondern ein Sehen. Die Gegenstände waren gegenwärtig, er brauchte sie nur anzusehen. Das Bild bewegte sich, war voller Leben. Was so seine Sinne berührte, stellte genau das dar, was eintreten musste. Und wohlgemerkt, dieser Deutsche, einfältig und grobschlächtig wie sein Beruf, erzählte in naiver Weise seine phantastischen Wahrnehmungen. … Man wusste also mit Sicherheit (ich spreche die Sprache des Landes), dass das Ereignis eintreffen würde, aber der Zeitpunkt war unbekannt.“

Beispielgrafik zur bildlichen Einbildungskraft aus dem Buch von Karl Schmeing (1937).

Im Weiteren berichtet Baston über einen konkreten Fall, in dem ein Vorgesicht vorsorglich amtlich dokumentiert wurde und später tatsächlich eintrat:

„Eines Tages ging ich auf dem Platz spazieren, an dem das Rathaus und die Wachstube liegen. Ich erinnerte mich an den Hirten der unreinen Tiere und fragte meinen Freund, den Bürgermeister, den ich dort traf, ob dieser Mann immer noch Visionen hätte. ‚Immer noch‘, antwortete er mir. ‚Vor mehr als Jahresfrist hatte er eine Vision, die uns sehr interessiert und die ich in Einzelheiten aufbewahre. Ich habe sie schriftlich, mit meiner Hand unterzeichnet und mit dem Stadtsiegel versehen, damit man, wenn das Ereignis eintritt, nicht sagen kann, dass das Gesicht eine spätere Erfindung sei.‘

Verbreitung des Vorschauglaubens - Karte aus dem Buch von Karl Schmeing (1937).

‚Können Sie mir sagen, um was es sich handelt?‘ ‚O, sehr gern!‘ Und dabei zeigte er mir ein großes Wappenschild in farbigem Schnitzwerk, das an der Wand befestigt war: ‚Sehen Sie dort das Wappen unseres neuen Landesherrn, des Fürsten von Salm! Nun, der Seher hat vor vierzehn oder fünfzehn Monaten folgendes in seinen eigenen Worten zu mir gesagt: Heute habe ich einige hundert französische Soldaten gesehen. Sie trugen grüne Uniform und kamen durch das Varlarer Tor. Geradewegs haben sie sich auf den Marktplatz begeben, eine Leiter an die Mauer der Wachstube gestellt und das Wappen unseres Fürsten heruntergenommen. Dann haben sie ein anders Wappen aufgehängt, das ich nicht kenne. Das kündigt uns an, dass der Landesfürst noch einmal wechselt, und wir erwarten das Eintreffen der Vorhersage‘.

Soweit unsere Unterhaltung. Acht Tage später vernimmt man plötzlich vom Lande her den Lärm von einigen Trommeln. Die preußische Kavallerie, die in der Stadt in Garnison lag, steigt Hals über Kopf zu Pferde und zieht sich zurück. Zwei- oder dreihundert französische Jäger kommen zu dem Tor herein, das nach Varlar führt und das demjenigen, an dem die Franzosen üblicherweise hätten eintreffen müssen, gegenüber liegt. Sie begeben sich auf den Platz, stellen eine Leiter an die Mauer, nehmen das Wappenschild des Fürsten von Salm herunter und setzen an seine Stelle das Wappen des Fürsten Murat, Herzogs von Berg, den sie zum Landesherrn der Stadt und der dazugehörigen Gebiete erklären. Das Schriftstück dieses Gesichtes wurde entsiegelt und bestätigte sich in allen Punkten. Der Leser mag davon denken, was er will, aber meine Aussage enthält die Wahrheit.“

Dieses Vorgesicht nimmt Bezug auf die Besetzung Coesfelds durch französische Truppen im Jahre 1803. Dem gerade erst durch den Reichsdeputationshauptschluss eingesetzten neuen Landesherrn, dem Grafen von Salm-Horstmar, wurde die Landesherrschaft entzogen und seine kleine Grafschaft wurde Teil des Großherzogtums Berg, welches der Schwager Napoleons, Joachim Murat, regierte.

Heute glaubt wohl kaum noch ein Westfale an solche Vorgesichte. Aber der Mythos vom Zweiten Gesicht blieb lebendig. Er liefert den Stoff und vor allem den Titel für spannende Herdfeuerabende, unterhaltsame Stadtführungen, diverse Kriminalromane und sogar ein Theaterstück zum „dritten Auge der Westfalen“.


Quellen:

Mémoires de l’Abbé Baston, Chanoine de Rouen, d’aprés le manuscrit original pubié pu la Société d’Histire Contemporaine par M. l’Abbé Julien Loth et M.Ch.Verger, Tome III 1803-1818. Paris, Alphonse Picard et Fils, Libraires de la Société d’Histoire Contemporaine, Rue Bonaparte 82, 1899.
Heinrich Weber (Hrsg.): Coesfeld um 1800 – Erinnerungen des Abbé Baston. (= Beiträge zur Landes- und Volkskunde des Kreises Coesfeld, Heft 3). Coesfeld 1961.
Franz Jostes: Westfälisches Trachtenbuch. Volksleben und Volkskultur in Westfalen. Zweite Auflage, bearbeitet und erweitert von Martha Bringemeier. Münster 1961, S. 94
Karl Schmeing: Das Zweite Gesicht in Niederdeutschland. Wesen und Wahrheitsgehalt. Leipzig 1937.

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