Neue Heimat Ravensberg: Siedler in den Marken

19.03.2024 Marcel Brüntrup

Sebastian Schröder

Die Marken waren für die vormoderne Landwirtschaft äußerst wichtig. Zwar wurden sie nicht intensiv genutzt, was ihre Bedeutung allerdings nicht schmälerte. Denn in diesen Gemeinheiten hüteten die berechtigten Bauern und Heuerlinge ihr Vieh beziehungsweise gewannen Brennmaterial, sei es Holz oder Torf. Gleichzeitig stellten die Marken natürlich ein enormes Potenzial dar, um Neubauern anzusiedeln. Schon bevor man die Marken ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts privatisierte, wiesen die jeweiligen Markenherren sogenannte Zuschläge aus. Dabei handelte es sich um Grundstücke, die gegen ein gewisses Entgelt der privaten Nutzung zugeführt wurden. Über viele ravensbergische Gemeinheiten übte der Landesherr die Markenherrschaft aus. Folglich beaufsichtigten seine Beamten bei der Kriegs- und Domänenkammer nicht nur das Markenwesen, sondern waren zugleich zuständig für die Ausweisung von Bau- und Siedlungsplätzen. Gerade diese waren für den Preußenkönig ein lukratives Geschäft. Schließlich war er immer darauf bedacht, neue Einnahmen zu generieren. Und die Formel lautete denkbar einfach: mehr Menschen, mehr Steuern.

Diese Ansiedlungspolitik bezeichneten die Zeitgenossen als „Peuplierung“ oder „Volckreichmachung“. Aber nicht immer verlief die Gewährung von Zuschlägen konfliktfrei, weil die bereits ansässigen Untertanen gegen den Bau neuer Besitzungen in der Mark protestierten. Sie fürchteten eine Verknappung ihrer Weidegründe. Etwa beschwerte sich der Herforder Magistrat 1768 gegen die Ausweisung von Zuschlägen in der Strotheide, die unweit der Stadt im ravensbergischen Amt Sparrenberg lag: „Die Hiddenhauser haben ganz ohnüberlegt die so benannte Strotheyde zu verkleinern gesuchet, worauff die Radewicher Gemeinde ihr Rind-Vieh eben wie die Schäferey weidet […].“ Dagegen argumentierte der zuständige Landrat Christian Heinrich Ernst Freiherr von Ledebur: „Die Strotheide ist ein großer, ohngefehr 12 Malter haltender Platz und dabei ein fruchtbarer Boden, es kann selbiger zu Zuschlägen, noch beßer aber vor Ihro Königl[ichen] Majestaet höchstes Interesse ohnmaßgeblich zuträglicher mit Neubauereien, wozu sich Liebhaber genug finden werden, angewandt werden, gleichwohl müßte so viel darliegen bleiben, als zur Hude und Weyde von Heuerlingen unentberlich wäre […].“ Damit beschrieb der Landrat äußerst präzise die diversen Interessenslagen.

Karte der Bielefelder Feldmark mit den dort angesiedelten Neubauern, 1790 (LAV NRW W, W 051, Nr. 8537).

1743 erhielten die ravensbergischen Ämter von der Kriegs- und Domänenkammer den Auftrag, Bericht über diejenigen Stätten ihres Verwaltungsdistrikts zu erstatten, die man auf einst gemeinen Markenländereien angesiedelt hatte. Im Amt Limberg war Amtmann Johann Henrich Velhagen tätig. Beispielsweise recherchierte er, dass der Bauer Redecker in den Sunnern aus der Bauerschaft Muckum 1687 in der Ahler Mark ein sieben Scheffelsaat großes Grundstück von den Eigentümern des Adelssitzes Nienburg erworben hatte. Dieser hatte dann das mit Baumbestand bewachsene Land urbar gemacht, einen Garten angelegt und ein Haus errichtet. Maria Elisabeth, die Tochter des Landwirts Andreas im Heitwinkel aus Ostkilver berichtete dem Amtmann, ihr Vater habe sein Gehöft vor 37 Jahren erbaut. Der entsprechende Bauplatz sei früher zur Hälfte Kilver Markengrund gewesen. Weitere Angaben wusste sie allerdings nicht zu machen; ihr Mann könne sich ebenfalls nicht äußern – er sei nämlich vor einigen Wochen nach Holland gegangen, um dort zu arbeiten. In der Bauerschaft Offelten, die zum Kirchspiel Oldendorf gehörte, erzählte Landwirt Wilde, dass er im Jahr 1729 eine Scheune vom Bauern Niehaus erworben habe. Selbige sei vor 40 oder 50 Jahren auf ehemaligem Markenland aufgebaut worden. In der Scheune verwahre er Getreide. „Damit das darin gefahrne Korn desto beßer gesichert sein mögte“, hätte er außerdem einige Kammern für eine Heuerlingsfamilie eingerichtet. Da das Gebäude jedoch derart baufällig sei und eine Reparatur nicht mehr lohne, ziehe der Heuerling demnächst aus. Deswegen diene das Fachwerkhaus zukünftig lediglich als Scheune, betonte der Offelter Bauer. Insgesamt erfuhr Amtmann Velhagen von 16 Personen, die Markengrund in seinem Amtsbezirk bebaut hatten. Bei ihnen handelte es sich allesamt um Einheimische. Des Weiteren zeugen die Protokolle aus der Feder Velhagens eindrucksvoll von der Wohnsituation und dem Alltag der Neusiedler. Dass der Ehemann von Maria Elisabeth im Heitwinkel nach Holland zog, um dort Geld zu verdienen, belegt, über welch äußerst schmale wirtschaftliche Basis die auf Markenland errichteten Stätten verfügten. Teils reichte der zugehörige Landbesitz nicht aus, um das Auskommen zu sichern. Henrich Meyer, der 1741 ein Haus in der Holzhauser Masch bezog, verdiente seinen Lebensunterhalt beispielsweise als Schäfer. Nicht selten trat zudem der Fall auf, dass ehemalige Soldaten in den Marken siedelten, wie das Beispiel des Unteroffiziers Niehaus in der Oldendorfer Mark beweist.

Ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erfassten die Kriegs- und Domänenräte die Kolonisten und Neusiedler regelmäßig in Form von Tabellen. Erfolgte die Aufnahme zunächst nach Jahren gegliedert, existierten anschließend sogar monatsgenaue Auskünfte. Anhand des ravensbergischen Kirchspiels Brackwede sollen diese Verzeichnisse näher vorgestellt werden. Zwischen 1751 und 1759 siedelten sich hier 20 Familien an. Einer der Siedler verdiente seinen Lebensunterhalt als Schäfer und einer als Bleicher, ansonsten standen Ackerbau, das Fertigen von Leinen sowie das Garnspinnen im Vordergrund. Der größte Teil der Siedler war gebürtig aus dem Kirchspiel Brackwede. Lediglich Johann Herman Hukötter bezeichneten die landesherrlichen Beamten als „Ausländer“, während Jürgen Wortmann zwar nicht aus dem Kirchspiel Brackwede selbst, jedoch aus dem zugehörigen Amtsbezirk stammte. Zwei der Neubauern, nämlich Johann Friedrich Greife und Frantz Herm Gartemann, dienten beim Heer. Überdies verzeichneten die Listen ganz genau, wie viele Söhne und Töchter die Siedler hatten.

Solche Kolonistentabellen liegen natürlich nicht nur für das Kirchspiel Brackwede vor. Ganz im Gegenteil erlauben die Unterlagen Rückschlüsse auf die gesamte Grafschaft Ravensberg. Demnach haben sich zwischen 1740 und 1787 in den Territorien Minden und Ravensberg 1262 Familien mit 6374 Personen angesiedelt. Und über sie alle führte die Kriegs- und Domänenkammer genau Buch. Beruf, Familie, Herkunft – all diese Daten zu den Kolonisten lassen sich den Unterlagen der Kammer entnehmen. Somit erweisen sich die Aufzeichnungen als wichtige Quellengattung, um ländlichen Siedlungsbewegungen und Familienverhältnissen nachzuspüren.

Quellen:

Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abteilung Westfalen, D 607/Kriegs- und Domänenkammer Minden, Nr. 3238: Die in den gemeinen Marken der Grafschaft Ravensberg angesetzten Neubauern und deren Freiheit. Allgemeines, 1743–1807.

Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abteilung Westfalen, D 607/Kriegs- und Domänenkammer Minden, Nr. 3247: Etablierung einiger Neubauereien auf Zuschlägen in der Strotheide (Amt Sparrenberg, Vogtei Enger), 1768–1772.

Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abteilung Westfalen, D 607/Kriegs- und Domänenkammer Minden, Nr. 3253: Tabellen der im Minden-Ravensbergischen und im Tecklenburg-Lingenschen etablierten Kolonisten, 1765–1789.

Die bisherigen Teile der Serie zur Kriegs- und Domänenkammer Minden:

Ein Dickicht voller Alltagskultur: Die preußischen Kriegs- und Domänenkammern in Westfalen im 18. Jahrhundert

Die Preußen wollen umsatteln: Zugochsen statt Pferde lautete die Devise

Erfindergeist in Minden und Ravensberg

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