Gefräßige „Schädlinge“: Die Bekämpfung von Raupen in der Grafschaft Tecklenburg

13.06.2025 Niklas Regenbrecht

Bildtafel I aus Carl Wilhelm Hennert: Ueber den Raupenfraß und Windbruch..., Leipzig 1798.

Sebastian Schröder

Wer sich mit Gartenarbeit beschäftigt, wird bestimmt schon Bekanntschaft mit einigen unliebsamen „Gästen“ gemacht haben: Die Rede ist von Raupen, die häufig als „Schädlinge“ beargwöhnt werden – Berühmtheit erlangten in jüngster Zeit beispielsweise der Buchsbaumzünsler oder der Eichenprozessionsspinner. Neu ist dieses Thema freilich nicht; bereits unsere Vorfahren kämpften gegen gefräßige Raupen. Und insofern kann es durchaus aufschlussreich sein, zu betrachten, wie die Menschen in vergangenen Jahrhunderten gegen vermeintliche Schädlinge vorgingen.

Etwa hatte der preußische Monarch zur Mitte des 18. Jahrhunderts ein Edikt oder „Patent“ über das „Abraupen der Bäume“ erlassen – ein gedrucktes Exemplar erreichte auch die Verwaltungsbehörden der Grafschaft Tecklenburg. Alle Eingesessenen eines bestimmten Distrikts oder einer Stadt waren demzufolge gehalten, Raupen von Bäumen und Hecken abzusammeln und anschließend zu „verbrennen“. Explizit erklärten die preußischen Behörden, dass dazu ein Bündel Stroh entzündet werden solle, um die Tiere zu „versengen“. Insbesondere im Winter beziehungsweise im beginnenden Frühjahr habe man diese Aufgabe zu erledigen, ehe die wärmenden „Sonnen-Strahlen“ die Larven „ausbrüte“. Der König gab das Ziel aus, dass „dieses höchst schädlich[e] und von Jahren zu Jahren sich mehrende Ungeziefer […] ausgerottet und vertilget werden möge.“ Eigentlich läge es im Interesse jedes einzelnen Landwirts oder Gartenbesitzers, selbst aktiv zu werden. Doch die Erfahrung lehre, dass längst nicht alle Landeskinder eigenständig gegen die Ausbreitung der Raupenpopulation vorgingen. Aber was helfe es, wenn nur vereinzelte Garten- und Grundstücksbesitzer gegen das tierische Übel schritten, während die Nachbarn überhaupt gar nicht tätig würden, fragten die landesherrlichen Behördenvertreter eher rhetorisch. Deswegen seien gesetzgeberische Maßnahmen erforderlich.

Bildtafel II aus Carl Wilhelm Hennert: Ueber den Raupenfraß und Windbruch..., Leipzig 1798.

Über die Einhaltung der Bestimmungen zum „Abraupen der Bäume“ wachte der Steuerrat, wobei diese Bezeichnung dem eigentlichen Aufgabengebiet dieses staatlichen Bediensteten kaum gerecht wird. Denn der Steuerrat befasste sich mitnichten ausschließlich mit Steuern oder Finanzen, wie man zunächst denken könnte, sondern seine Kompetenzen waren weitreichender. So inspizierte er grundsätzlich alle Angelegenheiten, die eine Stadt betrafen. In der Grafschaft Tecklenburg war zur Mitte des 18. Jahrhunderts der Steuerrat Consbruch für die Städte Lengerich, Tecklenburg und Westerkappeln zuständig. Unter anderem hielt er regelmäßig eine „Raupen-Visitation“ ab. Was verbirgt sich hinter diesem Begriff? Alle vier Wochen sollten Vertreter der Amtsgerichtsbarkeit ihren Sprengel bereisen, um Versäumnisse aufzudecken. Wer der landesherrlichen Anordnung zuwidergehandelt hatte, wurde mit einer Strafe in Höhe von einem Reichstaler belegt. Die Gerichtsangestellten wiederum hatten gegenüber dem Steuerrat die Pflicht, über Erfolg oder Misserfolg der obrigkeitlichen Maßnahmen zu berichten. Der Steuerrat seinerseits war gehalten, den landesherrlichen Behörden Rede und Antwort zu stehen. Gegen die Raupen zog also der gesamte Behördenapparat des preußischen Staates ins Feld.

Trotz dieser so strikten Anweisungen musste Steuerrat Consbruch eingestehen, dass sich die Bürger der tecklenburgischen Städte nur bedingt an die Bestimmungen des Edikts hielten. Insgesamt sei der „Abraupung bisher sehr schlecht nachgelebet“ worden, bilanzierte der Steuerrat, der gleichzeitig Unverständnis über die Bevölkerung der Grafschaft Tecklenburg äußerte. Denn, wie der in preußischen Diensten stehende Amtsträger argumentierte, „der große Nutze[n]“ zum Schutz der Obstbäume und anderer Pflanzen müsste eigentlich einem jeden unmittelbar einleuchtend sein. Wie reagierte die Territorialverwaltung? Abermals sandte sie mehrere Exemplare des Patents in die Grafschaft Tecklenburg, ermahnte die Bauerrichter, „die Unterthanen an [die] fleißige Abraupung [zu] erinnern“ und ordnete weitere Kontrollen an.

Bildtafel III aus Carl Wilhelm Hennert: Ueber den Raupenfraß und Windbruch..., Leipzig 1798.

Indes erwies sich der Erfolg dieser Befehle als lediglich mäßig; zu keinem Zeitpunkt erreichte der Staat das Ziel einer vollständigen Ausrottung. Etwa beklagte Forstmeister Schmidt bei seiner Anwesenheit in den Grafschaften Tecklenburg und Lingen im Sommer 1799 die Existenz der „Kleine[n] Kiefern-Raupe“, die er bei einer Reise in die Niedergrafschaft Lingen entdeckt hatte. Unter anderem war es Aufgabe des Forstmeisters, regelmäßig die Kiefernschonungen zu inspizieren. Die Kiefern hatte der preußische Monarch anpflanzen lassen, um Sandverwehungen vorzubeugen – Raupenfraß stellte bei diesen Bemühungen eine durchaus ernstzunehmende Bedrohung dar. Besonders arg traf es 1799 die Kiefernanpflanzungen des Landwirts Dolle zu Biene bei Lingen. Dolle nannte zwei kleinere Grundstücke sein Eigen, auf denen Kiefern gediehen. Beide Flächen seien „durch Millionen Raupen besetzt“, die alle „Nadeln […] abgefressen hätten“. Zum Glück habe zu dieser Zeit ein starker Nachtfrost eingesetzt, dem ein Großteil der Raupen zum Opfer gefallen sei. Jedoch hätten die überlebenden Tiere sich nunmehr an der Rinde der Bäume zu schaffen gemacht. Deshalb ordnete der Forstmeister weitergehende Maßnahmen an: Er befahl dem vor Ort tätigen Unterförster, einen Graben um das vom Raupenfraß betroffene Gebiet zu ziehen. Des Weiteren sollten die beschädigten oder abgestorbenen Bäume gefällt und verbrannt werden – gleiches galt für die Heideflächen beziehungsweise den Waldboden.

Diesbezüglich orientierte sich Schmidt an der Publikation „Ueber den Raupenfraß und Windbruch in den Königl[ich] Preuss[ischen] Forsten“, die der Preußische Geheime Forstrat Carl Wilhelm Hennert in den 1790er-Jahren verfasst hatte. Sein Buch hatte Hennert im Auftrag der obersten Forstbehörde geschrieben. Konkret ging es darum, Windwurfschäden zu beseitigen beziehungsweise einen Maßnahmenkatalog zu erstellen, um die Massenvermehrung des Kiefernspinners in der Kurmark zu verhindern. Am Ende seiner Veröffentlichung beschrieb der Forstrat einige Raupen und andere „Schädlinge“ näher; diese Tabelle nahm auch der tecklenburgische Forstmeister Schmidt zur Hand – ein Exemplar der Publikation muss sich also in seinem Bücherregal befunden haben.

Dieser Fall belegt: Gegen Ende des 18. Jahrhunderts entwickelte sich ein fachlicher Diskurs zur Vertilgung pflanzenschädigender Raupen. Galt noch zur Mitte des Jahrhunderts das händische Sammeln der Tiere als probates und gemeinhin übliches Mittel zur Verhinderung einer weiteren Vermehrung, setzte in den folgenden Jahrzehnten ein Wandel ein. Experten diskutierten weitreichendere Maßnahmen, um die Raupenpopulation zurückzudrängen. Befallene Baumbestände wurden beispielsweise gefällt, die Stämme verbrannt, der Boden großflächig abgetragen. Es handelte sich um drastische Schritte, die natürlich nicht spurlos an Natur und Umwelt vorübergingen. Bei allen Vorkehrungen war es vornehmliches Ziel, eine als „schädlich“ charakterisierte Tiergattung gänzlich „auszurotten“. Gedanken über die Auswirkungen auf die Biodiversität machten sich die Verwaltungen nicht; im Vordergrund stand ausschließlich der Schutz der Forstbezirke und des Obstbaumbestandes als wichtige wirtschaftliche Einnahmequellen und Subsistenzgrundlage der Bevölkerung, die der Dringlichkeit und äußersten Entschlossenheit, mit der die Obrigkeit vorzugehen gedachte, ihrerseits nicht in der gewünschten Einmütigkeit Folge leistete.

Quelle: Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abteilung Westfalen, D 803/Kriegs- und Domänenkammer Minden, Verwaltung der Grafschaften Tecklenburg und Lingen, Nr. 511: Tilgung der Raupen, 1749–1803.

Abbildungen: Bildtafeln aus Carl Wilhelm Hennert: Ueber den Raupenfraß und Windbruch in den Königl. Preuß. Forsten von dem Jahre 1791 bis 1794, Leipzig 1798. Digitalisiert von der Bayerischen Staatsbibliothek: https://www.digitale-sammlungen.de/de/view/bsb10228836?page=256,257

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