Ein gescheitertes Großprojekt: Jacob Paul von Gundling und sein Plan, alle preußischen Territorien zu beschreiben

21.10.2025 Niklas Regenbrecht

Die Tecklenburger Bürgermeister Leonhard Altmann und Arnold Meese beantworteten die Fragen Jacob Paul von Gundlings nach einem genau festgelegten Schema. Hier ist der Beginn ihrer „Historische[n] Beschreibung der Stadt Tecklenburg“ zu sehen, LAV NRW W, D 607/Kriegs- und Domänenkammer Minden, Nr. 1248, fol. 44r.

Sebastian Schröder

Jacob Paul von Gundling (1673–1731) war eine geradezu tragische Figur am Hof der Preußenkönige Friedrich I. (1657–1713) und Friedrich Wilhelm I. (1688–1740). Hatte Friedrich I. den Gelehrten und Professor der Ritterakademie noch als Historiograph in das Oberheroldsamt berufen, um die Geschichte Brandenburgs zu erforschen, so kam es mit dem Thronwechsel im Jahr 1713 zum großen Bruch: Der neue Monarch enthob Gundling aller seiner bisher innegehabten Ämter. Anstatt die Vergangenheit zu untersuchen, sollte sich der Gelehrte künftig der in neuer Aufgabe der Gegenwart widmen und insbesondere der Frage, wie der preußische Staat seine Wirtschaft fördern könne. Aus diesem Anlass bereiste Gundling die Kurmark, um dem König und seinen Räten über die Situation in den dortigen Städten zu berichten. Dabei blieb es jedoch nicht. Denn als ein „Nebenprodukt“ seiner Bereisungen präsentierte Gundling im Jahr 1724 seinen „Brandenburgischen Atlas Oder Geographische Beschreibung der Chur-Marck Brandenburg“.

Der „Brandenburgische Atlas“ lässt sich ohne Umschweife als ein historiographisches Großprojekt beschreiben. Nach Abschluss dieses Mammutprojekts träumte Gundling davon, derartige Beschreibungen auch für die anderen Länder des preußischen Herrschaftsgebietes zu veröffentlichen – ohne Mitstreiter konnte dieser Plan aber kaum umgesetzt werden. Deshalb änderte Gundling seine Vorgehensweise. Anstatt selbst in die einzelnen Provinzen zu reisen, um sich dort persönlich Informationen einzuholen, entwickelte er Fragebögen, die er im Jahr 1724 an die Regionalverwaltungen schickte. Die lokalen Behörden reichten diese Formulare an die Vertreter der Städte weiter, die die Fragen entsprechend zu beantworten hatten. In der Grafschaft Tecklenburg besaß seinerzeit lediglich der gleichnamige Residenzort städtische Rechte; Lengerich erlangte erst drei Jahre später derartige Privilegien.

Jacob Paul von Gundling (1673–1731) – Porträt aus der Biografie „Leben und Thaten Jakob Paul Freiherrn von Gundling. Königl. Preußischen Geheimen Krieges-Kammer-Ober-Appellations- und Kammergerichts-Raths, wie auch Zeremonienmeisters und Präsidenten bei der königl. Societät der Wissenschaften etc. eines höchst seltsamen und abenteuerlichen Mannes“, Berlin 1795.

In Tecklenburg erhielten die Bürgermeister Leonhard Altmann und Arnold Meese den Auftrag, die Formulare Gundlings mit Leben zu füllen. Am 30. August 1724 kamen sie der Aufforderung der preußischen Landesverwaltung nach und unterzeichneten zwei Berichte. Während sich die erste Niederschrift vornehmlich mit den Charakteristika der Stadt Tecklenburg befasst, informiert das zweite Schriftstück über die gleichnamige Grafschaft. Beide Dokumente folgen exakt dem Schema Gundlings. So galt es, 14 Fragen zur Darstellung der Stadt Tecklenburg zu beantworten. Etwa interessierte Gundling, welche Manufakturen sich etabliert hatten, welche Gewerbezweige in der Stadt vertreten waren, ob es Jahrmärkte und wie viele Häuser beziehungsweise Einwohner es gebe. Altmann und Meese antworteten: „Dieses Städtgen Lieget auf einen hohen Berge, und dahero Von aller passage entblößet, ist an der einen Seithe mit einem Königl[ichen] Gehöltze, der Sundern genandt, an der andern aber mit Stein-Felsen und Säeland umbgeben.“ Des Weiteren berichteten sie, dass die Bürger einst maßgeblich aufgrund der Bedürfnisse der gräflichen Hofhaltung ihren Unterhalt gesichert hätten. Nahezu ein Drittel aller Einwohner Tecklenburgs soll in Diensten des Landesherrn gestanden sein, trugen Altmann und Meese vor. Parallel zum Niedergang der gräflichen Residenz hätte auch die tecklenburgische Bevölkerung ihre Haupteinkommensquelle verloren. „Armuth“ sei allerorten spürbar. Folglich würden einige der 145 Häuser in der Stadt „lehdig und unbewohnet stehen, auch sind die meisten in einem schlechten Stande, und können aus Mangel der Mittel nicht repariret werden“, betonten die tecklenburgischen Bürgermeister. Ackerbau könne infolge der geographischen Beschaffenheit des Ortes kaum betrieben werden; die Felder lieferten nur wenig Ertrag. Deshalb würden die meisten Menschen Flachs und Hanf verspinnen und zu Leinen verarbeiten, das in der städtischen Prüfanstalt, der Legge, kontrolliert und sodann bis nach Bremen und andernorts verhandelt werde. Ferner erläuterten Altmann und Meese, wie sich das städtische Ratsgremium zusammensetzte und wer in der Stadt für Recht und Ordnung sorgte.

Neben den Nachrichten zur Stadt Tecklenburg erstellten die beiden Bürgermeister ein „Verzeichniß“ zur Grafschaft Tecklenburg. Darin erfragte Jacob Paul von Gundling zunächst Informationen über die Grenzen des jeweiligen Territoriums. Zudem sollte aufgezeichnet werden, wie viele Städte, Flecken und Ämter oder Stifte und Klöster in diesem beheimatet waren. Ferner fertigten die Bürgermeister eine Tabelle der landtagsfähigen tecklenburgischen Rittergüter an und führten die Kirchspiele beziehungsweise Vogteien der Grafschaft auf.

Viel wussten Altmann und Meese freilich nicht zu berichten. Denn aufgrund des starren Schemas der Gundlingschen Fragebögen konnten die Bürgermeister von Tecklenburg nicht alle Fragen beantworten. Die geforderten Kategorien waren nicht mit den Spezifika des Landes vereinbar. So notierten Altmann und Meese gleich mehrfach: „Hievon ist Unß nichts Bewust.“ Beispielsweise gab es weder Flüsse noch Gesundbrunnen in der Grafschaft – darüber hatte Gundling Nachrichten erbeten. Die Art und Weise, wie der Gelehrte aus Berlin seine Informationen erhob, stieß mitunter also an Grenzen, da das Format landestypische Eigenheiten nicht abbilden konnte. Umgekehrt ließen sich einige Fragen auf die Grafschaft Tecklenburg nicht anwenden.

Letztlich scheiterte Gundlings Mammutprojekt eine umfassende Beschreibung aller preußischen Territorien zu veröffentlichen. Insofern blieb der „Brandenburgische Atlas“ ein Einzelstück; womöglich waren nicht alle Städte ihrer Pflicht nachgekommen, Berichte nach Berlin zu senden. Die tecklenburgischen Notizen wurden nie publiziert und fristeten in der Registratur der Kriegs- und Domänenkammer ihr weiteres Dasein, ohne dass Notiz von ihnen genommen worden war. Trotzdem belegt das Vorhaben Jacob Paul von Gundlings, wie die landesherrlichen Behörden im Verlauf des 18. Jahrhunderts immer stärker darauf bedacht waren, alle Ecken und Enden ihres Herrschaftsbereichs statistisch zu erfassen. Das war eine Forderung des Kameralismus, der eine wissenschaftliche Grundlage zur wirtschaftlichen Entwicklung des Herrschaftsgebiets liefern sollte. Das Gundlingsche Werk blieb zwar in den Vorbereitungen stecken, aber in der Folge schickten sich weitere Beamte und Gelehrte an, ähnliche Vorhaben zu verwirklichen.

 

Quelle: Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abteilung Westfalen, D 607/Kriegs- und Domänenkammer Minden, Nr. 1248: Die von den Städten der Provinzen Minden, Ravensberg, Tecklenburg und Lingen angeforderten Nachrichten für die vom Geh. Rat von Gundling bearbeitete Landesbeschreibung, 1724–1725.

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  16. Den Strom bändigen: Die Kriegs- und Domänenkammer und die Weser
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  22. Ein Land, wo trockenes Heidekraut wächst und in dem sich kein Vogel ernähren kann: Sandverwehungen in der Grafschaft Ravensberg
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  26. In Ladbergen wird’s brenzlig: Gerangel um die Anschaffung einer Feuerspritze
  27. Mit Schaufeln und Äxten. Verwaltung in der Grafschaft Tecklenburg während des Siebenjährigen Krieges (1756–1763)
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  29. Von wilden Pferden zu edlen Equiden? Pferdezucht in der Grafschaft Tecklenburg
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